Oper Bonn „THAIS“ am 21.06.2014 (Premiere am 18.05.2014)
Massenets Oper THAIS spielt im deutschsprachigen Raum keine Rolle im Standard-Repertoire. Das ist bedauerlich, denn musikalisch steht sie einer „Manon“ oder einem „Werther“ nicht nach. Das Libretto ist eine außerordentliche psychologische Studie. Einerseits ist da Thais, eine Hetäre aus byzantinischer Zeit, die ihr Dasein mit Partys (wie man heute sagen würde) und sexuellen Vergnügungen fristet. Auf der anderen Seite ist da Athanael, ein christlicher Asket, der den Bezug zur Realität mehr oder weniger verloren hat. Man kann es auch so formulieren: Beide bekämpfen auf ihre Weise ihre defizitäre Lebenssituation. Während Thais dies erkennt und in die innere Emigration und in die Wüste flüchtet, bleibt Athanael zunächst dem psychischen Gefängnis des religiösen Eiferers verhaftet. Regisseur Francisco Negrin hat es hervorragend verstanden, diesen Konflikt im Rahmen der Personenführung herauszuarbeiten. Besonders bewegend ist jener Moment, in dem Athanael erkennt, daß er sich auf dem falschen Weg befindet und aufbricht, um Thais doch noch wiederzusehen, letztlich aber zu spät kommt. Ausstatter Rifail Ajdarpasic hat dazu ein monumentales Bühnenbild erstellt. Über die Zentralbühne erstreckt sich eine große Freitreppe, die hinaufführt zu einer kreisrunden Öffnung. Zu Beginn des Spektakels sieht man dort Athanael ausgestreckt auf einem Kreuz liegen. Später füllt sich dieser Bereich mit Licht, ohne dass der Rezensent dieses Szenario sinnvoll zu interpretieren vermag. Im sechsten Bild steht Athanael fünf bis sechs Meter hoch über dem Bühnenboden auf einem Podest. Er ist ungesichert. Unterhalb seines Podests liegt die ausladende Freitreppe, ebenfalls ohne Sicherung. Man darf gar nicht darüber nachdenken, was passieren kann, wenn in der zum Teil schummrigen Bühnenbeleuchtung einer der Darsteller stolpert und die Treppe hinunterstürzt. Er fällt dann unweigerlich in den Bühnengraben. Was das für fatale Folgen haben kann, weiß man noch vom tödlichen Unfall von Jean-Pierre Ponnelle.
Die Handlungszeit hat der Regisseur zumindest ausweislich der Kostüme von Ariane Isabell Unfrieb in der vom Libretto vorgesehenen Zeit belassen. Das ist aber letztlich ohne Bedeutung, weil der psychologische Konflikt zeitlos ist und sich stets und überall ereignen kann.
Die musikalische Leitung hatte Thomas Wise von GMD Blumier übernommen. Das Beethoven-Orchester musizierte in dieser sechsten Aufführung der Serie offensiv und bestens eingespielt. Hervorzuheben ist naturgemäß der Soloviolinist Mikhail Ovrutsky, dessen Interpretation der berühmten „Méditation“ großen Konzertsolisten nicht nachstand.
Musikalisch stellt das Werk an die beiden Protagonisten ungemein große Anforderungen. Das ist sicherlich auch ein Grund, weshalb es relativ selten gespielt wird. Nicht jedes Haus kann wie die Met mit einer Renée Flemming oder einem Thomas Hampson besetzen (der Rezensent hatte seine erste Begegnung mit dem Werk 1988 in Paris mit der Maßstäbe setzenden Besetzung Karen Huftstadt und vor allem Alain Fondary). Die Rolle der Thais fordert eine Sopranistin, die feine Lyrismen ebenso vermitteln kann wie den dramatischen Aplomb des letzten Bildes. Dort wird die Stimme durch die gebotenen Aufschwünge, verbunden mit extremen Spitzentönen, in einer Art und Weise gefordert, dass es für den Zuhörer geradezu atemberaubend ist. Die Oper Bonn hatte das Glück, mit der jungen Nathalie Manfrino, der Schwägerin von Roberto Alagna, eine solche Besetzung gefunden zu haben. In Frankreich gilt die zudem höchst attraktive Bühnenerscheinung als Inkarnation der Thais. Den Sprung in den deutschsprachigen Raum hat sie noch nicht recht geschafft. Das ist gänzlich unverständlich. Eine solche Sängerin gehört an die Staatsopern von Wien und München, zumal sie auch eine Vollblutdarstellerin ist.
Ihr Gegenpart war der Aserbaidschaner Evez Abdulla. Es gibt zur Zeit nur sehr wenige Baßbaritone mit einem derartigen vokalen Potential. Über solche Durchschlagskraft, wie sie Abdulla gegeben ist, wären die meisten Wotan-Interpreten dankbar. Allerdings macht er davon auch reichlich undifferenziert Gebrauch. Das kostet zuweilen die Eleganz der Gesangslinie. Dennoch macht die Stimme neugierig auf einen Einsatz im deutschen Fach.
Die übrigen Mitwirkenden sind nur Stichwortgeber. Das gilt selbst für den Tenor und Liebhaber der Thais, Nicias, der von Mirko Roschkowski mit schönen Höhen gesungen wurde. Wenn man so will, ist „Thais“ eine Oper (fast) ohne Tenor. Die übrigen Partien waren durchweg mit bewährten Kräften der Bonner Oper besetzt, so mit Priit Vollmer (Palémon), Sven Bakin (Diener), Susanne Blattert (Albine), Charlotte Quadt (Myrtale), Stefanie Wüst (Sklavin) u.a.
Bedauerlicherweise setzt die Oper Bonn die Produktion schon nach der siebten Aufführung ab und sieht auch von einer Wiederaufnahme in der nächsten Spielzeit ab. Das ist eigentlich nicht verständlich, denn die Aufnahme durch das Publikum war enthusiastisch.
Klaus Ulrich Groth