Stuttgart: Gauthier Dance
„ALICE“ 27.6. (Uraufführung 25.6.) – Zauber der Illustration
Sinnliche Annäherung: Florian Lochner, Anna Süheyla Harms. Foto: Regina Brocke
Eric Gauthier träumte schon seit einiger Zeit von einem abendfüllenden Stück des von ihm sehr geschätzten und schon mehrfach für seine Compagnie tätig gewesenen Mauro Bigonzetti und dieser förderte den früheren Plan einer Choreographie über Lewis Carrolls weltweit berühmten und vielfach künstlerisch verarbeiteten Roman wieder zutage, weil er in Gauthier Dance genau jene Vielfalt an Tänzercharakteren vorfand, die für die schillernden Figuren dieser phantastischen Geschichte wichtig erschien. Das Ergebnis ist nicht nur das bislang größte, mit Hilfe von den Partnerträgern in Luxembourg und Ludwigshafen gestemmte Projekt des inzwischen 15köpfigen Ensembles, es zeigt all die Komponenten einer lebendigen Bühnenkunst so glücklich aufeinander bezogen, dass des Staunens während der zweistündigen Spieldauer kaum ein Ende ist.
Die Kurzform des gewählten Titels verweist bereits darauf, dass es Bigonzetti nicht um eine direkte Übertragung der Vorgänge im Roman und vor allem auch nicht um eine spezifisch englische Angelegenheit geht. Das Wunderland, in dem sich Alice während eines Schlafes wiederfindet und dort allerlei seltsamen Menschen und Tieren begegnet, ist weltumfassender, und trägt der südländischen Herkunft des Choreographen entsprechend glutvoll rustikalere Züge als das distinguiert zurückhaltendere, feinere Original. Die Phantasie wie auch der Prozess der Selbstfindung aus der Kindheit zum Erwachsensein haben bekanntlich keine geographischen Grenzen.
Bei seiner Umsetzung geht es dem Choreographen weniger um eine genau nachbuchstabierte Erzählung der Vorlage, mehr um die Illustration ihrer nur lose aneinander gereihten und dadurch sehr viel Freiraum belassenden Szenen und Geschichten. Die heutige Technik macht es möglich auf ein Bühnenbild und Requisiten zu verzichten. Sich beständig verändernde, ineinander fließende und übereinander gesetzte Videoprojektionen ( Carlo Cerri ) auf die Rückwand schaffen die Illusion einer bisweilen bizarren Märchenwelt aus riesigen Festsälen, Bibliotheken, aber auch Unterwasser-Motiven, mit all ihren Abgründen, die sich dahinter befinden und so den unaufhörlichen Wandel von Alices Erfahrungen symbolisieren. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die Choreographie, die vor diesen laufenden Bildern eine Realität gewinnt als würden die Darsteller wirklich durch diese Traumwelt gehen. Die sehr schick wirkenden Kostüme von Helena de Medeiros geben teilweise nur dezente Hinweise auf die einzelnen Figuren, unterstützen sie aber in Bigonzettis bekannt körperbetontem Stil durch viel frei belassene Haut.
Die gespaltene Persönlichkeit Alices wie auch das Changieren zwischen Kindsein und erwachsener Reife brachten Bigonzetti auf die Idee, zwei sehr kontrastierende Tänzerinnen wechselnd und zusammen einzusetzen. Die eine groß, rothaarig und etwas verträumt ( Anna Süheyla Harms ), die andere klein, blond und aufgeweckt ( Garazi Perez Oloriz ). Raffiniert scheinen beide mit ihren Körpern wie ihren langen Haaren bisweilen zusammengeschweißt, gegenseitig miteinander ringend. Nicht nur äußerlich, auch als Typ könnten sie nicht unterschiedlicher sein, jedoch faszinieren beide durch ihre Geschmeidigkeit und ihre bis ins letzte Glied reichende Einfühlsamkeit. Erstere darf in einem von einer Harfe begleiteten idyllisch schönen Solo auch auf ihre klare und berührende Stimme aufmerksam machen, mit der sie ihrem Wunsch nach einem Mann Ausdruck verleiht und dabei auf einer Schaukel sitzt, deren Fläche eines der zuvor von oben herab geschwebten golden leuchtenden Bücher bildet. Am Ende folgt sie dem geheimnisvoll süffisanten Hutmacher, dem einzigen Menschen unter den tierischen Begegnungen. Bereits beim ersten Auftritt mit gespreizten Schritten durch die Positionierung eines Beines auf einem hohen Hut wird Florian Lochners starke Präsenz wie im weiteren Verlauf auch die sinnliche Anziehungskraft auf Alice spürbar. Deren Weg kreuzt auch immer wieder Rosario Guerra als weißes Kaninchen mit flinker Agilität und weichen Sprüngen. Höhepunkte an akrobatisch anmutender tierischer Charakteristik bieten Juliano Nunes Pereira als Raupe sowie, Maurus Gauthier und Maria Prat Balasch als Katze. Anneleen Dedroog gibt der glatzköpfigen Königin im roten Korsettkleid mit langen Beinen und gebieterischer Mimik bühnenbeherrschende Strenge. Einen Siebenschläfer veranschaulichen David Valencia M. und Caroline Fabre, Sandra Bourdais und Miriam Rose Gronwald sind mit einem dicken Seil verknüpft als Zwillinge auszumachen, von den Gruppenszenen ist die ironisch aufgegriffene englische Teestunde sowie die Bühnenüberquerung eines Tausendfüßlers besonders hervorzuheben, und Eric Gauthier selbst schlüpft in die Rolle des Vorlagen-Schöpfers Lewis Caroll, erzählt bei noch geschlossenem Vorhang wie es zur Entstehung seiner berühmten Romane ( zu „Alice im Wunderland“ gehört auch noch die hier ebenfalls verwendete Fortsetzung „Alice hinter den Spiegeln“) kam und begleitet sich als erfahrener und gewiefter Songwriter auf der Gitarre.
Überhaupt die Musik: die nach Bigonzettis „Cantata“ erneute Zusammenarbeit mit der neapolitanischen Vokalgruppe Assurd, diesmal noch ergänzt um den Akkordeonisten und Flötisten Antongiulio Galeandro, verhilft diesem besonderen Projekt zum Ereignis eines Gesamtkunstwerks. Mit ihren urigen, urtümlichen, mit viel Tiefe teils kräftig zupackenden, teils virtuos schnell eingesetzten Stimmen sorgen die Damen Enza Pagliara, Cristina Vetrone, Enza Prestia und Lorella Monti mit ihren selbst komponierten und getexteten Gesängen für einen Wandel an eigentümlichen Stimmungen, deren Quelle tief aus dem Inneren strömt. Teils a cappella, teils sich selber auf einer Trommel oder einem Tambourin begleitend, gestalten sie ihren eigenen Rhythmus und letztlich den Grundpfeiler für den gesamten Ablauf. Die bei allen Verhakungen, Verschlingungen, Kletterungen und engen Körperberührungen nie an Fluss verlierende, zur Gänze barfuss getanzte Choreographie gewinnt dadurch noch eine zusätzliche Erdung.
Als Einwände könnte höchstens das meist schlechte Verständnis der alle irgendwie auf Alices Geschichten Bezug nehmenden Lieder in süditalienischem Dialekt sowie spanischer und französischer Sprache sowie auch die im ersten Teil ohne vorherige ungefähre Kenntnis der Geschichten wenig Orientierung bietenden und dadurch manchmal beliebig erscheinenden Vorgänge angeführt werden.
Die Botschaft des Originals, die Pflasterung des Weges zum Erwachsenwerden mit immer wieder ungewöhnlichen Erfahrungen und Hürden in Form von abstrusen Erscheinungen und Begegnungen, ist auch auf diese verweltlichte oder südländisch geprägte Illustration ohne Einschränkungen, ja auf optisch bestechende und akustisch eindringliche Weise, angekommen und löste am Schluss, nachdem beide Alice-Teile verschiedenen Weges gegangen sind, lang anhaltenden Jubel und Getrampel aus, wie er für Gauthier Dance fast schon Standard geworden ist. Udo Klebes