Mainz: 7. Sinfoniekonzert – Britische Musik jenseits des Schemas – 27.5.2022
Einmal mehr geht GMD Hermann Bäumer beim 7. Sinfoniekonzert der Saison im Großen Haus des Mainzer Staatstheaters an die Ränder des traditionellen Repertoires und darüber hinaus. Die drei Werke des Programms haben zwei Eigenschaften gemeinsam: Zum einen stehen mit Anna Clyne (Jg. 1980), Benjamin Britten und Edward Elgar nur britische Komponistennamen auf dem Papier, und zum andern entziehen sich die drei gespielten Werke mehr oder weniger den traditionellen Erwartungen der Hörer an einen geordneten Ablauf.
Zur deutschen Erstaufführung bringt das Philharmonische Staatsorchester Mainz zu Beginn das knapp 9-minütige Stück „«rewind«“ von Anna Clyne. Die in London aufgewachsene und mittlerweile in den USA lebende Komponistin interessiert sich für die Schnittstellen von Musik und Technik und hat neben akustischer auch elektroakustische Musik geschrieben. Daher rühren auch die beiden nach links weisenden Spitzklammern links und rechts im Werktitel. Er spielt nämlich an auf das „Bild eines analogen Videobandes, das sehr schnell zurückgespult wird, mit flüchtigen Momenten des Überspringens, Einfrierens und Verzerrens.“ Die Übersetzung dieser visuellen Vorstellung ins Akustische ergibt ein rasch pulsierendes, flirrendes Stück aus knappen minimalistischen Figuren, das in seiner vorwärtstreibenden Energie an John Adams „A Short Ride on a Fast Machine“ erinnert, aber bis auf ein auffälliges Violinsolo kurz vor Schluss keine einzelnen Instrumente herausstellt. Stattdessen gibt es zwischendurch einige Glissandi und immer wieder unberechenbare Tutti-Schläge. (Interessant wäre es natürlich, eine Aufnahme dieses Stückes rückwärts zu hören. Würde sich da ein weniger abstrakter Eindruck ergeben?) Das Orchester spielt „«rewind«“ rasant, wie aus einem Guss, und wer müde und abgespannt ins Konzert kam, ist spätestens jetzt hellwach und aufnahmebereit.
Das ist beim nächsten Stück von Vorteil, denn Benjamin Brittens „Symphony for Cello and Orchestra“ op. 68, die er 1963 für seinen Freund, den berühmten russischen Cellisten Mstislav Rostropowitsch schrieb, stellt nicht nur gewaltige Anforderungen an den Solisten, sondern auch an den Hörer. Vom ersten bis zum, letzten Satz ist diese Musik schlicht unberechenbar. Gleich zu Beginn des ersten Satzes etwa stellt Britten dem vollgriffigen Beginn des Cellos eine noch tiefer liegende, langsame Linie von Tuba und Kontrabass gegenüber, in die sich auch noch eine unheimliche Kontrafagott-Figur einschleicht. In dezenter Begleitung eines Gongs tasten sich die Beteiligten eine Weile voran, bis sie von einem plötzlichen Aufschrei des Orchesters mit anschließendem Tumult unterbrochen werden, in den sich dann wiederum das Cello einmischt. Die Musik ist ständig in Bewegung, bleibt aber völlig unvorhersehbare, und es gibt kaum etwas zum Wiedererkennen. Das Scherzo wirkt wie eine Geisterbahn, hinter deren Ecken immer wieder ein neuer Kobold auftaucht. Der langsame Satz hat zwar anfangs etwas von einem gewichtigen Trauermarsch, verwischt aber immer wieder die rhythmischen Konturen und führt den Gesang des Cellos in ungewöhnliche Höhen, um in nächsten Moment in allgemeine Hektik zu verfallen. Das Finale trägt die Überschrift „Passacaglia“, aber entgegen dem Geist dieser altehrwürdigen Form fängt das Cello mit einer kräftigen, aber statischen Pendelfigur an, über die sich eine auffallend banale Trompetenmelodie legt. Erst zum Ende deutet sich so etwas an wie ein traditioneller Finaljubel.
Bewundernswert ist, wie Alban Gerhardt am Solocello und Hermann Bäumer mit dem Philharmonischen Staatsorchester das gesamte Werk mit Ausdauer, Energie und Gestaltungswillen alle potentiellen Bruchstellen durch steuern, als müsse das alles so und könne gar nicht anders sein. Gerne würde ich in einem Programmheft oder Konzertführer einmal etwas Erhellendes über die Unter- und Zwischentöne dieser Musik lesen, die in ihrer Doppel- oder Mehrfachbödigkeit stark an Prokofieff und Schostakowitsch erinnert. Brittens Widmung an Rostropowitsch und dessen Begeisterung für das von ihm uraufgeführte Werk deuten immerhin auf mehr als zufällige Beziehungen zur russischen sinfonischen Musik. Die Zugabe jedenfalls passt gut dazu: Es ist eine sehr virtuose, zwischen Experiment und Eleganz changierende Miniatur unter dem schlichten Titel „Moderato“, die der Cellist Rostropowitsch selbst komponiert hat. Bei der Ansage dieses Encore erwähnt der Solist auch ein Problem, das man ihm nicht wirklich angemerkt hat: Nachdem am Vortag der Hals seines eigenen Instruments entzweigegangen war, hat er auf einem kurzfristig organisierten Leih-Cello spielen müssen.
Auch Edward Elgars Sinfonie Nr. 1 op. 55 aus dem Jahr 1908, mit der der Konzertabend nach der Pause schließt, folgt nicht wirklich den traditionellen Formkategorien. Dass der Komponist für den 2. und 3. Satz dasselbe Thema in ganz unterschiedlicher Rhythmisierung und Tempo benutzt, ist eine Pointe für Eingeweihte, die man beim Hören nicht erkennt. Was sofort ins Ohr fällt, ist, dass zu Beginn auf ein choralartiges Eingangsthema in As-Dur in der Tradition von Mendelssohn und Brahms völlig unvermittelt ein nervöses Thema folgt, das an Berlioz oder Tschaikowsky erinnert. Dessen Tonart d-moll ist so weit weg wie möglich von As-Dur. Auch harmonisch prallen hier also zwei Welten aufeinander; und Elgar kämpft bis ins Finale darum, sie zu versöhnen. In ihrer Mischung aus Brüchigkeit, Sehnsucht und kompositorischer Anstrengung erinnert die Musik stark an Gustav Mahler. Wer in Elgar nur den „Prunkkomponisten des Pomp and Circumstance“ (Meinhard Saremba) und den Nostalgiker des British Empire sieht, wird hier natürlich überrascht. Tatsächlich spiegelt sich wohl, um den Elgar-Experten Jerrol Northrop Moore zu zitieren, in dieser beim englischen Publikum sehr erfolgreichen Sinfonie „das Bedürfnis, am alten Ideal festzuhalten, dies aber gleichzeitig den schärfsten Prüfungen der Zukunft auszusetzen.“ Das lässt sich an diesem Abend eindrucksvoll nachvollziehen – bis hinein in die Erschöpfung, die man Orchester und Dirigent beim Schlusston anmerkt.
Andreas Hauff