Foto: Ilko Freese / drama-berlin.de
BERLIN / Komische Oper:
CASTOR UND POLLUX
12.Juli 2014
Berlin erweist dem genialen Jean-Philippe Rameau mit seiner Parabel um Treue, Jenseitiges und die Einsamkeit von Liebenden eine würdige Reverenz.
Zum 250. Todestag des Opern-Spätzünders Rameau mit seiner unverwechselbaren mitreißenden Klangsprache kann die Komische Oper Berlin mit einer absoluten Rarität im Repertoire aufwarten, der tragédie lyrique en musique in fünf Akten Castor und Pollux in der 2. Fassung von 1754.
Das Haus überzeugt im Rahmen des Saisonabschlusses „Eine Woche Opernrausch“ mit einem großen, aber nüchtern reduzierten Theaterabend ohne Froufrou und Ballett (Inszenierung Barrie Kosky) . Letztere Entscheidung lässt sich kritisch hinterfragen, als das Ballett in der tragédie lyrique nicht störendes Beiwerk und Handlungsbremser, sondern essentieller Bestandteil eines Gesamtkunstwerks mit transzendenter kathartischer Wirkung sind. Kunst als äußerster Trost im höchsten Leid.
In einem hellen nackten Holzkubus mit mobiler Hinterwand (Bühnenbild und Kostüme: Katrin Lea Tag) spielt sich das Qui pro Quo der Liebesirrungen und -verwirrungen zweier ungleicher Geschwisterpaare, der Halbbrüder Castor und Pollux sowie der Schwestern Télaire und Phébé, ab. Wobei die Bruderliebe triumphiert und der strenge Jupiter letztlich Castor von seinem Versprechen, wieder in die Unterwelt zurückzukehren, entbindet. Einen einzigen flüchtigen Tag auf Erden zurückzukehren, um seine Geliebte zu sehen. Als leuchtendes Beispiel für treue Freundschaft erstrahlen die Brüder nunmehr am Himmel. Menschen zu Licht gewandelt, das den Weg weist. Immer wenn es in der Antike ein vermeintliches Happy End gibt, steht ein unfassbares unauflösliches Drama dahinter. Zwei Schwestern lieben fatalerweise denselben Bruder, der vom Phébé angestachelten Lyncée im Zweikampf getötet wird. Es folgt eine seelische Berg- und Talbahn aller zwischen Himmel und Hades, Trennung, Verzicht und Tod, Einsamkeit, Abschied, Verlust, Melancholie und Wahnsinn.
Einsamkeit vor dem Tod und Vergänglichkeit, Wiederkehr als sublimierter Kunstakt sind in Rameaus Universum Essenz einer von der Musiksprache her radikal durchkomponierten Oper. Dirigent Christian Curnyn stellt die typischen geschichteten Streicherklänge, Rameaus geliebte Fagotte und Flöten in den Dienst des knochenharten Stücks. Dem Orchester der Komischen Oper gelingt eine durchhörbare, bewegende Umsetzung der komplexen Partitur. Wiewohl ich erklärter „Ramonist“ bin, ist „Castor und Pollux“ dennoch keine leicht zu verdauende Kost. Die Komische Oper schafft es aber, das Publikum mit einer auch sängerisch hochkonzentrierten Wiedergabe vor ausverkauftem Haus zu begeistern.
Die Palme gebührt Allan Clayton in der Rolle des gewöhnlich sterblichen Castor. Mit bestens fokussiertem Tenor vermag der Künstler Wort und Ton rezitativisch als auch arios zu einer dramatischen Einheit zu schmieden, sein Französisch ist tadellos. Als Halbgott Pollux vollbringt Günter Papendell eine schauspielerische Glanzleistung. In der unteren Lage hat er hörbar Schwierigkeiten, ein Schicksal das er mit anderen Interpreten dieser Partie wie Gerard Souzay teilt. Die begehrte Télaire wird von der Virginia Zeani-Schülerin Nicole Chevalier, die unglückliche Phébé ebenfalls von einem Ensemblemitglied der Komischen Oper, der Mezzosopranistin Annelie Sophie Müller, idiomatisch glorios interpretiert. Alexey Antonov als Jupiter, Bernhard Hansky als Hohepriester des Jupiter und Aco Aleksander Bišćević als beflügelter Mercure ergänzen das motivierte Ensemble.
Mir ist es ein Rätsel, warum Rameau bis dato nicht einen größeren Platz in den Spielplänen erringen konnte. In Wien ist immerhin dem Theater an der Wien eine Aufführungsserie von „Platée“ zu verdanken. Warum die Wiener Staatsoper auch unter einem französischen Direktor nicht das eine oder andere Meisterwerk der tragédie lyrique herausbringt, ist mir ein Rätsel. In Paris konnte man Platée zuerst im Châtelet und dann am Palais Garnier immer wieder vor ausverkauften Häusern spielen. Mit einer grandiosen Produktion könnte man auch das Wiener Opernpublikum in Scharen für französische Barockmusik mit ihrer unendlichen Verfeinerung unter gesamthaften Einbezug des Balletts begeistern. Die Zeit ist reif. Und nicht immer dieselben Werke meist in austauschbaren Ko-Produktionen ohne Bezug zum genius loci zu zeigen.
Wie es auch anders geht, führt die Komische Oper vor. In der Spielzeit 2014/2015 wird man neben Offenbachs Schöner Helena u.a. auch Raritäten wie Arizona Lady von Emmerich Kálmán, Eine Frau, die weiß was sie will! von Oscar Strauss, aber auch Opernschwergewichte wie Schönbergs Moses und Aron, Mozarts Don Giovanni und Lucio Silla bzw. für die Freunde von Barockmusik Händels Giulio Cesare in Egitto neu interpretieren.
Ingobert Waltenberger