Schwerin / Alter Garten: ABSCHLUSS DER SCHLOSSFESTSPIELE: “NABUCCO” – OPEN AIR – 2./3.8.
Schwerin ist eine Stadt mit vielen schönen Gebäuden, Straßen und Plätzen, die man immer wieder gern besucht. Der schönste Platz aber ist das Gebiet um das große, auf einer Insel im Schweriner See liegende, “Märchenschloss”, das „Neuschwanstein des Nordens“, dessen Anfänge bis ins 1. Jahrtausend zurückreichen, dessen heutige Ansicht – nach vielen Umgestaltungsphasen in vergangenen Jahrhunderten – weitgehend in der Stilepoche des Romantischen Historismus (19. Jh.) von namhaften Architekten und Baumeistern geprägt wurde und das heute als eines der bedeutendsten Bauwerke dieser Epoche in Europa gilt. Zusammen mit Staatstheater und Museum bildet es ein einmaliges städtebauliches Ensemble, das geschickt als “Kulisse” für die Schlossfestspiele des Mecklenburgischen Staatstheaters genutzt wird. Man konnte wählen zwischen Nachmittagsvorstellung (17 – 19.45 Uhr) und „Nachtvorstellung“ (21 – 22.45 Uhr), bei der als zusätzlicher Reiz das erleuchtete Schloss mit der Schlossbrücke und die angestrahlten Gebäude von Theater und Museum „mitspielten“.
Auf dem Gelände des “Alten Gartens” zwischen Theater und Museum mit unverstelltem Blick auf das Schloss wird jedes Jahr eine andere Oper bzw. Operette inszeniert, jedes Jahr mit einer anderen Bühnendekoration und immer neuen Gestaltungsideen. Für Giuseppe Verdis “Nabucco” schufen Georg Rootering (Inszenierung), Romaine Fauchère (Bühne und Kostüme) und Katharina Riedeberger (Dramaturgie), die schon bei Tschaikowskys “Eugen Onegin” zusammengearbeiteten, einen, in sich stimmigen, Szenenablauf ohne Hektik oder übertriebene Hast, aber immer in Spannung und Bewegung von Anfang bis Ende.
Zwei große Kästen (Boxen), einer khakifarben, einer in blau, mit großer “Guckkastenbühne”, rechtwinklig zueinander gestellt, versinnbildlichen die beiden widerstreitenden Lager der Babylonier und Israeliten als 2 große Räume, 2 Paläste, 2 Zentren, 2 Welten und 2 Völker mit sehr unterschiedlichem Glauben. Wie ein Blick in die Historie weisen sie mit kubistischen Elementen aus der Gegenwart in eine längst vergangene Welt und Zeit. Dazwischen liegt eine schiefe Ebene als schräge Bühnenfläche Richtung Publikum.
Durch allerlei Theatergeräusche, Textdeklamation, Einsingen, Chorgesang (vom Band) u. a. werden die Passanten und Besucher (auch tagsüber) schon auf die Vorstellung eingestimmt. Dann ist es soweit. Die Stimme eines Schauspielers gibt (vom Band) eine kurze, instruktive Inhaltsangabe mit wenigen, aber gut gewählten Sätzen, was sehr zweckmäßig ist, da italienisch gesungen wird. Vor jedem Akt verkündet dann (ebenfalls vom Band) eine Frauenstimme einen einschlägigen Bibeltext aus dem Alten Testament.
Zunächst erscheint der Dirigent, an beiden Abenden war es Daniel Huppert, verneigt sich und verschwindet durch eine schwarze Tür in eine noch schwärzere „Black-Box“ unter der Bühne, in der das Orchester sitzt und schwitzt und bei „50°C“ !, wie der Intendant behauptete, „Schwerstarbeit“ leisten muss. Die traditionsreiche Mecklenburgische Staatskapelle Schwerin tat dies (vor allem am 3.8.) mit Bravour. Da das Orchester während der gesamten Vorstellung unsichtbar (und vor Regen geschützt) ist und die Musik über Lautsprecher das Publikum erreicht (was bei Open Air erforderlich ist), könnte man meinen, die Musik käme vom Band, wenn nicht das gesamte Orchester am Schluss auf die Bühne käme, um seinen wohlverdienten Applaus entgegenzunehmen. Das war bei diesem gut spielenden Orchester schade. Im vergangenen Jahr war das Problem besser gelöst.
Während es am 2.3. viele schöne, bewegende lyrische Passagen, sehr schöne Streicher und gute Bläser, aber auch allzu beschwingte Walzerrhythmen – bei Verdi gibt es da einen wichtigen Unterschied – und unangemessen laute Forte-Stellen gab, die durch die Verstärkung schrill wirkten, spielte das Orchester am 3.8. während des gesamten Abends hinreißend schön, exakt und mit Gespür für Verdis Musik. Die sanften Anfangspassagen gingen „unter die Haut“ und erinnerten an Verdis seelischen Schmerz beim Komponieren, nachdem seine beiden Kinder und seine Frau plötzlich verstorben waren.
In diesen musikalischen Genuss fällt lautstark ein (Bau-)Stein auf die Bühne, obwohl niemand im Zuschauerbereich eingeschlafen ist und es auch während der gesamten Vorstellung mit 2 ¾ Std. Spieldauer nicht tun würde, denn der Fortgang der Handlung wird unauffällig, aber gezielt in festen Händen gehalten. Es gibt keine Längen, kein Ermüden. Die Handlung geht stetig und spannungsgeladen als Folge der einzelnen Szenen fort.
Über den hohen Rand der breiten „Guckkastenbühnen“ steigen je 2 Kinder (wobei sie zu straucheln drohen), um symbolisch einen Turm zu Babel aus Holzklötzern zu bauen, der immer wieder einstürzt. Kinder müssen scheinbar bei jeder Inszenierung immer noch sein, offenbar ein Tribut an die gegenwärtig aktuellen Inszenierungsmethoden, was hier durch die dabei auftretenden Geräusche die Konzentration auf die Musik stört. Es macht kaum Eindruck und hat auch nur mittelbar Bezug zur Handlung.
Es heißt, „Nabucco“ sei eine „Chor-Oper“. Hier erschien der Chor, bestehend aus Opernchor des Mecklenburgischen Staatstheaters Schwerin und Mitgliedern der Schweriner Singakademie und des Jugendchores des Goethe-Gymnasiums Schwerin und optisch erweitert durch die Statisterie des Mecklenburgischen Staatstheaters, zwar zahlenmäßig sehr groß, konnte aber die hier geforderte dramatische Wucht nicht erreichen. Vor dem berühmten „Freiheitschor“ „Va, pensiero, sull’ali dorate“ kam das „Volk“ nacheinander zwar sehr lässig, aber kaum gedemütigt und gedrückt auf die Bühne, ließ dann aber den letzten Ton sehr lange ausklingen.
In der Einstudierung von Ulrich Barthel sang der Chor durchaus immer richtig und auch gut, aber relativ „zart“, insbesondere der reine Männerchor. Beim gemischten Chor kompensierte sich das schon eher. Kein Wunder bei den verordneten Sparzwängen. Man hatte zwar aus der Not eine Tugend gemacht und sich zu helfen gewusst, aber ein professioneller Chor bringt doch mehr „Durchschlagskraft“, die in dieser Oper einfach notwendig ist. Es sollte nicht ausgerechnet bei der Kultur gespart werden, auch Oper und Theater sind wichtige Bestandteile des gesellschaftlichen Lebens!
Hier konnte (und musste) man sich auf die Solisten und schönen Ensembleszenen konzentrieren und insbesondere bei der letzten Vorstellung der Festspiele (3.8.) feststellen, dass nicht nur der bei allen Opern- und Nichtopern-„Fans“ beliebte „Freiheitschor“ ein Highlight ist, sondern die gesamte Oper ein Geniestreich Verdis mit vielen wunderbaren Arien und Ensembleszenen, so dass man sich wundert, warum diese Oper nicht öfter in den Spielplänen der Opernhäuser zu finden ist. Es gab schöne harmonische Ensembleszenen mit Solisten, Chor und Orchester, auch wenn die Sänger weit auseinander standen.
Als Nabucco dominierte Jorge Lagunes die Aufführung am 3.8. und verkörperte, kraftvoll in Stimme und Erscheinung die Macht. Er beherrschte die Szene und beeindruckte mit profunder, klangvolle Tiefe und problemloser Höhe in seiner großen Arie, die zu Recht mit „Bravo“ honoriert wurde. Es war eine abgerundete, großartige Leistung, wie man sich diese Bühnengestalt vorstellt, während Marco Moncloa am Vorabend zwar ebenfalls mit guter Tiefe, aber unsicherer Höhe aufwartete, sich im 3. und 4. Akt steigern konnte, aber dennoch kaum als die zentrale Gestalt der Oper erschien.
Ein ausgezeichneter Zaccaria mit wohltönendem Bariton, sehr schönen gefühlvoll-ausdrucksstarken Passagen und wohlwollender Würde und Ausstrahlung war Wieland Satter (3.8.). Mit einer Stimme, die berührt, die über eine profunde Tiefe (sehr lange ausgehalten), sehr ansprechende Mittellage und gute Höhe verfügt, konnte er sich ganz in die psychische Relevanz seiner Rolle vertiefen. Young Kwon stand ihm am Vorabend (2.8.) nur wenig nach.
Als Ismaele überzeugte Jason Kim (2.8.), der diese Gestalt mit Leben erfüllte, während Kerem Kurk (3.8.) relativ unauffällig blieb. Eher zurückhaltend wirkten an beiden Abenden auch Christian Hees als Abdallo und Sebastian Kroggel, der als Oberpriester des Baal kaum die Würde einer gewissen Machtposition als Sachwalter des Hauptgottes Baal repräsentierte.
Bei den Damen überzeugte vor allem Katja Levin als Abigaille mit schöner Stimme, guten Koloraturen und entsprechender Bühnenpräsenz (2.8.), während Taisiya Ermolaeva zwar ihre Rolle mit fast explosiver Vehemenz, Ekstase und Theaterleidenschaft sang und spielte, aber manches doch mehr angedeutet als exakt gesungen war, mal bewundernswert chromatisch abwärts, dann wieder manch hoher Ton zu tief, aber insgesamt alles mit überzeugender Rollengestaltung.
Als Fenena konnten beide Besetzungen überzeugen, Itziar Lesaka (2.8.) mit Sanftheit und klarer, wenn auch zarter Stimme und Jean Broekhuizen (3.8.) mit kräftiger Stimme und mehr Durchschlagskraft, aber beide als sanfte, aufrichtige und schuldlose junge Frauen. Die Anna verkörperte an beiden Abenden Katrin Hübner.
Auf den ersten Blick wirkt die Inszenierung schon durch die farbenfrohen, an alten Vorbildern orientierten Kostüme (immerhin keine gegenwärtige Kaufhausmode!), traditionell und als Blickfang. Dahinter verbargen sich aber auch gesellschaftliche Stellung und Situation im jeweiligen, immer wechselnden Machtgefüge.
Ebenso wirkt das Bühnenbild auf den ersten Blick mit den 7 siebenarmigen Leuchtern, geflügelten Tierfiguren und Fackeln konservativ und traditionsverhaftet, aber dahinter verbirgt sich modernes Regietheater, z. B. wenn Nabucco dem Wahnsinn verfällt und mit einer Zwangsjacke abgeführt wird, Abigaille die roten Fäden ihres Machtspiels wie eine Spinne um Nabucco „webt“ und immer enger um ihn zieht, die Trauer der Israeliten um ihre verlorene Freiheit mit einem schwarzen Gazevorhang und ihre Gefangennahme durch, an Stangen von Babyloniern gehaltene, rote Netzte angedeutet werden, Gewalt nicht fehlt und immer mit erhobenem Beil angedroht wird, und in Abigailles „Palast“ Fahnen der Neuzeit hängen. Hier wurden viele gute Ideen verarbeitet, alte, bewährte, publikumswirksame mit neuen, zeitgemäßen Elementen geschickt und sinnvoll in fließenden Übergängen unmerklich verbunden, um Macht und Ohnmacht immer neu zu sortieren. Es fehlt auch nicht das symbolisierende „Zeigetheater“. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ (Goethe) und allen Anforderungen gerecht werden.
Trotz Einschränkungen konnten sich die „Nabucco“-Aufführungen in unterschiedlichen Besetzungen sehen und hören lassen und brauchten den Vergleich mit großen Opernhäusern nicht zu scheuen. 33 000 Besucher sahen die Aufführungen auf dieser Open-Air-Bühne zwischen Schloss, Theater und Museum, bei der diese Gebäude auch als Ausschnitte geschickt ins Bühnenbild eingefügt waren. Als die Rückwand des Palastes der Abigaille weggeschoben wurde, erschien die Fassade des Museums als Ausschnitt. Es passte in das Bühnenbild und wies darauf hin, dass eigens als Ergänzung zu dieser Inszenierung 2 Gemälde sehr gegensätzlicher Kunstrichtungen zu diesem Thema: „Daniel deutet Nebukadnezars Traum“ von Salomon Koninck (1655) und „Judith und Holofernes“ von Franz von Stuck (1926) aus dem Depot geholt und in die ständige Ausstellung eingefügt worden sind.
Ingrid Gerk