Thurgau-Impressionen, eine Zeitreise ins Mittelalter, 08.08.2014
von Ursula Wiegand
Schön ist der Blick vom Arenenberg auf das von Wäldern gesäumte Südufer des Untersees, doch die sind im Thurgau neueren Datums. „Im Mittelalter reihten sich hier Felder und Weinhänge“, weiß Dominik Gügel, Direktor des Napoleonmuseums dort oben. Ressourcen, die es Konstanz ermöglichten, vor 600 Jahren zur Konzilstadt zu werden.
Arenenberg, Blick auf den Untersee. Foto: Ursula Wiegand
Ein Eignungstest ging der Wahl zum Kongressort voraus, und den erbrachte der Konstanzer Bürger Ulrich Richental. Intensiv bereiste er den Thurgau, um sämtliche Versorgungs- und Beherbergungsmöglichkeiten zu erkunden. Das positive Ergebnis seiner Recherchen ebnete Konstanz den Weg.
Wie eng die Verbindungen zwischen der Stadt und dem Thurgau ohnehin waren, zeigt schon der Arenenberg, das frühere Gut Narrenberg. Das kaufte der Konstanzer Bürgermeister Heinrich von Tettikoven um 1413 von der hier ansässigen Patrizierfamilie. Bald danach haben sich die Konzilsteilnehmer inmitten gepflegter Gärten entspannt.
Ab 1816/17 brachte die Familie Beauharnais/Bonaparte, die dort 20 Jahre im Exil lebte, die Gartenkunst zu besonderer Blüte. Louis Napoléon, der spätere Kaiser Napoleon III, wuchs in einer Parklandschaft auf. Ihm und den Seinen ist das Museum gewidmet.
Arenenberg, Salbei im neuen Patriziergarten. Foto: Ursula Wiegand
Animiert von solchen Traditionen hat man auf dem Arenenberg den mittelalterlichen Patriziergarten rekonstruiert. Eine kleine Anlage für die Sinne, gemäß dem Gartenhandbuch von Albertus Magnus. Alles noch etwas strubbelig. Doch neben plätscherndem Wasser duften wieder Salbei und Rosen.
Hier starte ich meinen Streifzug auf Ulrich Richentals Spuren zurück ins Mittelalter und in noch weit frühere Zeiten. Dieser fruchtbare, wohltemperierte Landstrich ohne Bergketten-Barrieren war seit eh und je ein beliebter Siedlungsraum. Pfahlbauten mit Funden aus der Jungsteinzeit künden davon ebenso wie die Relikte der alten Römer.
Frühe Christen gründeten Klöster und Kirchen und dekorierten sie mit fabelhaften Fresken. Trotz dieses kulturellen Reichtums und der relativ moderaten Preise ist der Thurgau fast noch ein Geheimtipp, selbst für die Schweizer.
Insel Werd, ehemaliges St. Otmarkloster. Foto: Ursula Wiegand
Dominik Gügel aus Konstanz kennt sich jedoch bestens aus und präsentiert westwärts fahrend sogleich einige Kleinode, das erste bei Eschenz. Ein Holzsteg führt hier auf die Insel Werd zu einem Klösterchen, gegründet vom Hl. Otmar, dem ersten und dann verstoßenen Abt von St. Gallen. Der starb 759 auf Werd. 10 Jahre nach seinem Tod wurde sein Leichnam nach St. Gallen überführt. Seit 1957 leben Franziskaner in dem Mini-Konvent.
Propstei Wagenhausen, Innenhof. Foto: Ursula Wiegand
Ein weiteres Juwel ist die im 11. Jahrhundert gestiftete Propstei Wagenhausen mit ihrer romanischen Klosterkirche. Beim Gang durch den schlichten, mit roten Geranien geschmückten Kreuzgang schwindet die Gegenwart. Die 1291 gegossene Glocke hat wohl schon Ulrich Richental in den Ohren geklungen.
Oberstammheim, reformierte Galluskapelle, Passionsfresken. Foto: Ursula Wiegand
Noch mehr haben ihn sicherlich die hochgotischen Fresken in der (inzwischen reformierten) Galluskapelle von Oberstammheim fasziniert. Die um 1320 entstandenen Malereien, eine ganze Bilderwand, wurden in der Reformationszeit übertüncht und 1909 freigelegt. Besonders drastisch ist die Passion Jesu dargestellt. Mit geballter Kraft pressen ihm zwei Schergen die Dornenkrone aufs Haupt.
Arbon, Galluskapelle und Martinskirche. Foto: Ursula Wiegand
Eine weitere Galluskapelle finde ich später in Arbon am Bodensee, wo St. Gallus im Jahr 640 verstarb. In diesem Kapellchen aus dem 12./13. Jahrhundert – ein Winzling neben der stattlichen Martinskirche – sind die Fresken jedoch verblasst.
„Arbon bedeutet guter Baum,“ erklärt Stadtführerin Erika Mock, und sicherlich waren es gute, gesunde Bäume, auf denen die Jungsteinzeitmenschen drei Pfahlbausiedlungen errichteten. Die ausgegrabenen Anlagen und gefundenen Grabbeigaben belegen die damalige Kultur so deutlich, dass die UNESCO sie zum Welterbe erklärte.
Arbon, Kamm, rd. 3000 v.Chr. Foto: Ursula Wiegand
Frau Mocks Lieblingsstück ist ein rd. 5.000 Jahre alter Kamm. „Unterm Mikroskop sind noch die vertrockneten Läuse zu erkennen,“ lacht sie. Uraltes fast lebensnah in einem Städtchen mit Römerresten, hohen Mittelaltertürmen, hübschen Fachwerkhäusern und einem Yachthafen.
Bischofszell, Alte krumme Thurbrücke. Foto: Ursula Wiegand
Und Bischofszell? Das wurde im 9. Jahrhundert von einem Konstanzer Bischof gegründet, Salomon I oder Salomon III. Demnach war der Ort mitsamt dem Pelagiusstift ein Ableger, eine Zelle des Bischofs. Der aber konnte nur bei Niedrigwasser die Thur durchqueren, erst 1487 wurde die „alte krumme Thurbrücke“ fertig, rd. 500 Jahre nach der ersten Pelagiuskirche.
Bischofszell, Pelagiuskirche mit Michaelskapelle. Foto: Ursula Wiegand
Die nachfolgende Pelagiuskirche wurde bis 1968 von Katholiken und Reformierten paritätisch genutzt, eine im Thurgau weit verbreitete, Baukosten sparende Praxis. In der Michaelskapelle (15. Jh.) feiern Portugiesen und Italiener die Hl. Messe.
Kartause Ittingen, Zellenhäuser der Mönche. Foto: Ursula Wiegand
Zur Krönung meiner Thurgau-Tour wird die Kartause Ittingen, die sich ins liebliche Thurtal schmiegt. Ein Blick ins 700jährige Klostergeschehen relativiert den romantischen Eindruck, führten doch die Kartäuser, die 1461 das vorherige Augustiner-Chorherrenstift erworben hatten, ein radikales Regiment.
Die Mönche lebten jeder für sich in strengem Schweigen und schlossen die Bevölkerung sogleich vom Gottesdienst aus. Frauen durften die Klosterkirche gar nicht mehr betreten, ertrotzten aber mit einem Sitzstreik den Bau einer eigenen Kapelle. Die Empörung eskalierte im „Ittinger Sturm“ von 1524. Wutbürger plünderten die Kirche, setzten sie in Brand und vertrieben die Mönche.
Kartause Ittingen, Rokoko-Klosterkirche. Foto: Ursula Wiegand
1553 bauten die Kartäuser ihr Kloster wieder auf und wurden durch Weinanbau und Weinhandel reich. Wie reich, beweist vor allem die Rokoko-Kirche von 1797. Doch lange währte ihre Freude nach 34jähriger Bauzeit nicht. Der 1803 geschaffene Kanton Thurgau beschlagnahmte das Vermögen des Klosters und hob es 1848 vollends auf.
Kartause Ittingen, Klosterkirche, Chorgestühl, Ausschnitt. Foto: Ursula Wiegand
Nach anschießendem Privatbesitz gehören die Anlagen seit 1977 der Stiftung Kartause Ittingen, wurden aufwändig restauriert und durch zwei Hotels, Seminarräume und ein Restaurant stilsicher ergänzt. Die rekonstruierten Zellenhäuschen hinter hohem Strauchwerk wirken nun idyllisch, der Rosengarten entzückt ebenso wie die prächtige Klosterkirche. Mit dem Audioguide am Ohr dringen nun alle staunend durch zwei (geöffnete) Lettner bis zum Hochaltar vor. Nur auf das luxuriöse Chorgestühl darf sich niemand setzen.
Kartause Ittingen, Museumsraum. Foto: Ursula Wiegand
Überdies beherbergt das Kloster das Kunstmuseum Thurgau sowie das Ittinger Klostermuseum und bietet sehenswerte Ausstellungen. Der „Scheiterturm“ von Tadashi Kawamata begrüßt die Gäste bereits auf der grünen Wiese.
Kartause Ittingen, Scheiterturm, März 2013, Tadashi Kawamata. Foto: Ursula Wiegand
Die Kartause Ittingen ist heutzutage ein Wohlfühlort, steht für Freundlichkeit statt Strenge, Offenheit statt Abschottung, Plaudern und Kinderlachen statt Redeverbot und Kurzhosen statt Kutten. Und der Konzilwein im Restaurant Zur Mühle zeigt der Zunge auch die Freuden des Mittelalters.
Infos inkl. Gratis-Versand von Prospekten und Kartenmaterial durch Thurgau Tourismus, Tel. 0041-(0)71-414 1144. Mail: info@thurgau-tourismus.ch. Internet: www.thurgau-tourismus.ch.