Peter Sellars Sicht auf Bachs Matthäus-Passion – 3.9.2014
Optisch diskutabel, akustisch qualitätvoll.
Mark Padmore. Foto: Marco Borggreve
Der oft aneckende Regisseur und das „enfant terrible“ Peter Sellars hat sich für Bachs opus sublimum eine szenische Realisierung ausgedacht. Wie er in einem aufschlussreichen Artikel im Programmheft selbst erklärt, wollte er ein „szenisches Ritual“ für die Trauerfeier für Jesus Christus anstelle der reinen konzertanten Wiedergabe veranstalten. Diese Sicht hat sicher etwas Faszinierendes, doch die Umsetzung stolperte leider über einige Unzulänglichkeiten der szenischen Umsetzung. Doch zuerst das Positive. Um einen stilisierten Katafalk herum stehen beim Eingangschor schwarz gekleidete Menschen, sie stellen offenbar eine Trauergemeinde dar. Die Ansammlung löst sich auf, die Choristen nehmen ihre Plätze ein und der Evangelist erzählt die Geschichte der Passion Christi. Dabei wendet er sich nicht nur an das Konzertpublikum, sondern auch an die Ausführenden, so an die beiden Chöre, an die Solisten. Die Beteiligten übernehmen mehr oder weniger andeutungsweise die ihnen zugedachten Rollen und statten diese mitunter mit überdeutlichen Gesten aus.
Magdalena Kozena und Mark Padmore. Foto: Monika Rittershaus
Am stärksten trat Magdalena Kozena hier in der Rolle der Maria Magdalena hervor. Allerdings war ihr Carmen-Tanz fehl am Platz. Die Sopranistin Camilla Tilling war die „andere Maria“. Dabei gingen die beiden Sängerinnen barfuss, aber im Abendkleid, während die Herren in Schuhen auftraten. So wurde die ganze Passion erzählt und gleichzeitig von den Mitwirkenden „gespielt“. Eigentlich ein Widerspruch: Der Evangelist erzählt im Imperfekt und die „Darsteller“ agieren im Jetzt. Das ging aber bei den Solistinnen recht gut, aber wenn der Chor sich in Trauer bewegt und das Ganze aussieht wie Eurythmie, dann scheint mir das doch verfehlt und nicht dem Anlass entsprechend. Dafür ist die Musik Bachs zu direkt und wohl auch sicher ohne szenisches Brimborium gedacht. Die Empfindungen spielen sich beim Erleben der Musik Bachs wohl eben nicht durch die veräusserlichte, szenische Umsetzung, sondern in der inneren Vertiefung des Rezipienten ab. Wenn sich die Mitwirkenden dauernd umarmen, am Boden liegen oder sich schmerverzerrt krümmen, so trägt das meines Erachtens ach so wenig zum Verständnis des Bach‘schen Meisterwerks bei. Muss denn immer alles „verbildlicht“ werden? Ist das der Effekt der überall gegenwärtigen Medien, die alles schamlos „ins Bild bringen“ wollen? War das die Absicht von Peter Sellars? – Simon Rattle steht wohl hinter den Intentionen des Regisseurs. Er dirigierte einen – sagen wir mal – zwischen historischer Aufführungspraxis und traditioneller Musizierweise angesiedelten Bach. Allerdings geriet die Aufführung durch die enorm zerdehnten Rezitative – in der mit vielen Pausen und nahezu manierierter, wenn auch virtuos ausgeführter Gestaltung durch den faszinierenden Mark Padmore als Evangelist – manchmal an die Grenze der Verlangsamung. Dabei waren die Chöre – hervorragend der Rundfunkchor Berlin (Einstudierung: Simon Halsey), unterstützt durch die Luzerner Kantorei (Einstudierung: Eberhard Rex) – in den Turbae wie in den Chorälen schon an und für sich ein Ereignis. Allerdings geriet der Eingangschor wohl nicht ganz so überzeugend und die Aufführung formierte sich erst nach der Pause, also im 2. Teil, zum Fabelhaften. Die Berliner Philharmoniker, in kleiner Besetzung angetreten, glänzten einmal mehr durch die Instrumentalsoli und die vortrefflich besetzte Continuo-Gruppe. Sir Simon war ganz bei der Sache und dabei ein „umsichtiger Walter des Geschehens“, das er im 2. Teil zu einem grossen Erfolg führen konnte. – Bei den Solisten beeindruckten der wortdeutliche Evangelist von Mark Padmore mit viel Kopfstimme, aber auch dramatischer Ausdruckskraft, Magdalena Kozena mit ebenmässig und schön geführtem Mezzo, aber leider wenig Tiefe und Dramatik, Camilla Tilling als sauber intonierende Sopranistin, aber mit wenig innerem Engagement. Ein Ausfall war leider der Tenor Tobi Lehtipuu in seinen beiden Arien, bedingt durch seine wenig entwickelte Gesangstechnik. Der Bass Eric Owens verfügt zwar über beeindruckendes Material, aber wenig Gesangskultur und eine anfechtbare Diktion. Die wunderschöne Stelle „Am Abend, als es kühle ward“… war leider verschenkt, obwohl der Künstler mit dem Herzen offensichtlich ganz dabei war. Alle „kleinen Partien“ waren mit Chor-Solisten des Rundfunkchors Berlin qualitätvoll besetzt. Als Christus war Christian Gerhaher eine Luxusbesetzung, er musste aber seine Einsätze im 2. Teil über das ganze Haus verteilt singen, was vom Regisseur sicher so gewollt war, aber unnötig und zum puren Bühneneffekt geriet. – Also ein höchst interessanter Abend, über den man sich auch seine Gedanken machen sollte.
John H. Mueller