Festspiele Baden-Baden: „GISELLE“ mit dem HAMBURG BALLETT 11.10. 2014 - Nur zur Hälfte eingelöst
Erfüllt in Seele und Technik – Silvia Azzoni (Giselle) und Alexandre Riabko (Herzog Albert). Copyright: Holger Badekow
„Mein Bestreben ist es, die zeitlose Ebene der Choreographie, das unmittelbar Physische, zu unterstreichen und durch Polierung alles Unwesentliche wegzunehmen“. Soweit eine der wesentlichen Äußerungen von John Neumeier zu seiner im Jahr 2000 neu konzipierten, der ihn dabei beratenden Natalia Makarova gewidmeten Fassung des romantischen Ur-Balletts schlechthin. Im September wurde sie in Hamburg neueinstudiert und nun im Rahmen des jährlichen Gastspiels in Baden-Baden gezeigt.
Neumeiers bekannt erzählerisches Geschick ließ in Verbindung mit seiner reichhaltigen Bewegungsphantasie eine gegenüber der traditionellen Sichtweise vertiefte und intensivierte Variation erwarten. Doch zumindest im ersten Akt war das Warten darauf vergeblich. Der zum zweiten Teil normalerweise so kontrastierend reizvollen Entfaltung des realen Lebens stehen das starre Bühnenbild und die Kostüme von Yannis Kokkos im Wege. Mit einfachen Zeichenstrichen in etwas kindlicher Naivität scherenschnittartig entworfene Hütten sowie großteils blasse Kleidung für Hofgesellschaft und Volk lassen vielfach farbliche Akzente vermissen, die auch dem Tanz und dem Geschehen drum herum eine gewisse Lebendigkeit verleihen. Erstaunlicherweise fehlt es auch an der sonst bei Neumeier so sicheren Hand für szenische Verdichtung. Abgesehen von dem mehr als sonst mitmischenden Wilfried – von Graeme Fuhrman gewitzt und locker ausgefüllt – wollen die dramaturgischen Ergänzungen nicht so recht greifen. Die Erhöhung von Giselles liebevoll und bestimmt besorgter Mutter zur blinden Visionärin, die auf den Knien rutschend auch noch am Grab der Tochter in Erscheinung tritt, entbehrt trotz Laura Cazzanigas eindringlichem schauspiel-pantomimischem Einsatz der einfachen Natürlichkeit. Die Wahnsinns-Szene, normalerweise der aufrüttelndste Moment, geriet durch die sehr reduzierte Beteiligung des Ensembles seltsam uninspiriert, die auch aus der Musik Adolphe Adams sprechende finale Kulmination in der Abwendung der Bauern von Albert, dessen Hin- und Hergerissenheit sowie Hilarions Wut und Verzweiflung, blieben unterbelichtet. Stattdessen setzten beleuchtungstechnisch in Orange abgehobene Szenen Zeichen für über das Gegebene hinausweisendes Gedankengut. Dafür wurde nicht nur eine meist gestrichene Fuge im zweiten Akt wieder eingefügt, in der sich die Wilis in lauter individuelle, vom Schicksal des Verdammtseins getragene Mädchen mit eigenständigen Bewegungs- und Schrittmustern separieren, es werden auch Leitmotive aus dem jeweils anderen Akt geschichtsverknüpfend bemüht sowie gewisse Umstellungen der Partitur-Reihenfolge vorgenommen. So beginnt der Bauern-Pas de deux völlig unvorbereitet, während die Einleitung mit der Krönung Giselles zur Weinkönigin erst danach erfolgt. Madoka Sugai und Kiran West tanzen diese anspruchsvolle Einlage ganz in der klassischen Tradition, aber ohne Schnörkel geradlinig, weitgehend sauber und immerhin mit so viel Temperament, dass ihr Auftritt den Höhepunkt des ersten Aktes markiert.
Die Mystik des nächtlichen Waldes spiegelt sich in Kokkos von wilden schwarzen Strichen überwölbter Bühne wesentlich stimmiger, wobei die hinter den Nebelschwaden sichtbar werdende Tür als Auf- und Abtritt für die Wilis einiges von der magischen Illusion nimmt. Als Anführerin Myrtha präsentiert sich Hélène Bouchet mit hoheitlicher Präsenz und königlicher Größe sowie einer guten, für eine letztlich überirdische Wirksamkeit ihrer Bahnen aber nicht ganz ausreichenden Technik. Dem Wilis-Ensemble gelingt eine gleichfalls gute, in den synchron angelegten Schreit-Arabesquen dennoch nicht durchweg ausgeglichene Leistung.
Wohl weislich hat Neumeier der auch musikalisch so geschlossenen Anlage zweiten Aktes vertraut und ihn bis auf die bereits erwähnte Fuge und Auftritt von Giselles Mutter am Grab unangetastet gelassen. Auch choreographisch bleibt weitgehend alles im klassisch akademischen Rahmen, mal von ein paar dem Fließen der Musik entgegen stehenden eckigen Details in Hilarions Aufbäumen gegenüber den Wilis abgesehen. Konstantin Tselikovs Verkörperung des nebenbuhlerischen Wildhüters hat indes hier eine im ersten Teil noch nicht bemerkbar gewordene Kontur erhalten.
Aus der szenischen Leblosigkeit des ersten Aktes vermochte sie sich noch nicht ganz zu befreien, aber im transzendenten Zustand der zur Rache an ihrem betrügerischen Geliebten aufgerufenen Braut behauptete sich Silvia Azzoni mit graziler Ausstrahlung und gab der äußerst viel Konzentration erfordernden zentralen Partie in der Verbindung von klarem Stilempfinden und sicher präzisem Balancieren doch noch einen Hauch von Magie, den die Bühne versagte. Der Reife der seit gut 20 Jahren zum Hamburger Ensemble gehörenden Ersten Solistin entspricht dieser erhöhte Anspruch an Ausdrucks-Dosierung wie auch Rollenverständnis naturgemäß mehr als das unbefangene, von purem Glück der Liebe durchströmte Mädchen. Ihr Partner Alexandre Riabko befindet sich als Herzog Albert auf der Höhe ihres Erfahrungsstadiums und überzeugte auch ohne spezielle Prinzen-Qualität in der Zusammenführung von wissender Gestaltung und tadelloser klassischer Schulung mit weich abgefederten Sprüngen und organischer Partnerführung. So kalt Giselles Tod und die Reaktionen der Umstehenden gelassen hatten, so nachhaltig berührte Alberts nach vergeblichem Kampf einsames Zurückbleiben. Schien sich die Philharmonie Baden-Baden unter der einfühlsamen Leitung von Pavel Baleff zunächst mit reichlich trockenem und in den Tutti merkwürdig starrem Klangbild der Szene anpassen zu wollen, so hingebungsvoll entfaltete sie den melodischen Stimmungszauber der Wilis-Welt in aller Ruhe und kammermusikalischen Sorgfalt. So war die atmosphärische Welt dieses Klassikers zuletzt doch wieder in Ordnung und die Vernunft des Vertrauens in ein wie hier unverbesserbares Original siegte über dramaturgischen Tatendrang.
Auch wenn Neumeiers sonst so instinktvolle Zutaten und erzählerische Einfälle hier mehr beeinträchtigten als dienlich waren, stand der dienstlängste Ballettdirektor neben den Tänzern wieder im Mittelpunkt der Publikums-Ovationen.
Udo Klebes