Fotos: FotoWerk / Werner Kmetitsch
WIEN / Theater an der Wien:
LES PÊCHEURS DE PERLES von Georges Bizet
Premiere: 16. November 2014
Es ist 20 Jahre her, dass die Volksoper die „Perlenfischer“ gespielt hat, jenes Werk von Bizet, das er selbst – das Bessere ist der Feind des Guten – mit seiner „Carmen“ ein Dutzend Jahre später mehr oder minder ausgelöscht hat (ebenso wie seine anderen wenigen Opern). Nichts von der frechen, fast aggressiven Attitüde des Zigeunerinnen-Schicksals – mit den „Pêcheurs de Perles“ bediente Bizet in kleinerem Rahmen die Grand Opéra. Vier Hauptdarsteller, Chor und Exotismus, wo man geht und steht – Ceylon, Priester, Fischer, Frau zwischen zwei Männern, aber der Sopran entscheidet sich natürlich für den Tenor, nicht für den Bariton. Dramatik, Edelmut, Todesgefahr und sehr viel wunderschön fließende Musik mit melodischen Highlights, französisches Opernschaffen sicherlich nahezu at its best.
Wenn das Theater an der Wien nun die „Perlenfischer“ wieder einmal ansetzt, hat man das Werk nach zweieinhalb Stunden fabelhaft gesungen wieder einmal zur Gänze gehört – dass man gesehen hat, was damals gemeint war, kann man nicht behaupten. Dennoch hat der Abend seinen stürmischen, unwidersprochenen Beifall verdient. Wenn man sich schon einbildet, die alte Kunstform der Oper aus der Distanz von gut 150 Jahre in die Gegenwart versetzen zu müssen, dann ist Lotte de Beer dazu jedenfalls mehr eingefallen als den meisten Kollegen.
Allerdings ist es gut, wenn man zeitig genug im Theater ist, um das Interview mit ihr im Programmheft zu lesen. Da merkt man nämlich, dass nicht auf sonst oft übliche Weise dummgeschwätzt wird, sondern sie sich wirklich etwas gedacht hat – und dass sie als „Übersetzung“ für den Exotismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und für die Rolle des „Chores“, der da ganz heftig über Leben und Tod entscheidet, tatsächlich ein heutiges Äquivalent gefunden hat.
Es heißt „Reality-Show“ à la Dschungelcamp, und genau das bringt sie auf die Bühne. Nicht immer ohne ein paar Gewaltsamkeiten, aber im Ganzen gut durchdacht. Außerdem konnte sie sich (wie auch Lev Dodin auf andere Weise am Tag zuvor in der Staatsoper) des Chors „entledigen“: Er spielt das Publikum an den Fernsehschirmen. Im Hintergrund der Bühne (Marouscha Levy) befindet sich ein riesiges, unten angeschnittenes Kreisrund. Das kann einfach eine Projektionsfläche für die rasend schnellen Bilder sein, die man längst gewohnt ist (und im Grunde schon nicht mehr sieht), das kann die triviale filmische Illustration eines erzählten Rückblicks bieten (Leila erinnert sich, wie sie als kleines Mädchen einen Fremden rettete). Hier kann man auch die Fernsehinformationen einblenden: „Perlenfischer – The Challenge“ heißt die Sendung, das Publikum wird zu einzelnen Entscheidungen gefragt (kein Zweifel, dass gegebenenfalls blutrünstig für „Tod!“ gestimmt wird). Oder das Rund wird transparent und man sieht in neun verschiedene Wohnungen, wo die Leute alle mehr oder minder fernsehen und am Geschehen auf dem Bildschirm teilnehmen (außerdem singen sie hier und stören nicht auf der Bühne selbst).
Wie ernst und dabei satirisch Lotte de Beer dieses Element ihrer Inszenierung nimmt, erweist sich in einer Einblendung zwischen dem zweiten und dritten Akt: Da gibt es die aus dem Fernsehen wohl bekannten Befragungen des Manns von der Straße, und da wird (ironisch) klar, welch wichtigen Stellenwert diese Idiotensendungen im Bewusstsein vieler Leute haben, die hier „mitleben“ und „mitfiebern“, als ginge es wirklich um irgendetwas von Bedeutung. Abgesehen davon, dass die Sehnsucht nach dem „echten Tod“, den man live miterleben könnte, vermutlich tatsächlich vorhanden ist…
Das Geschehen der „Perlenfischer“ also als Reality-Show in Sri Lanka von heute: Die Fernsehcrew ist allgegenwärtig, der Moderator (früher war er der Hohepriester der Oper) auch, und die beiden männlichen Hauptprotagonisten wissen genau, dass sie sich immer zur Kamera zu wenden und das obligate Grinsen aufzusetzen haben. Eingeflogen wird auch für die exotischen Showszenen eine Dame, die privat vor allem ihre Yoga-Übungen macht und sonst mit den diversen Kostümen (Jorine van Beek) kämpft, in die man sich steckt. Freilich, als sich zwischen den drei Herrschaften dann Privates ergibt, wird auch das in die Show vereinnahmt – bis zu fast letalen Konsequenzen („Wer A sagt, muss auch B sagen“, finden die Zuschauer und wendet den Daumen nach unten). Können die Liebenden tatsächlich vor dem realen Tod fliehen, so wird am Ende ganz klar, dass dieser offenbar einem Publikum versprochen wurde: Also muss ein anderes Opfer her. Und dann ist das, was die Regisseurin mit zahllosen satirischen Schlenkern auf die Bühne gebracht hat, gar nicht mehr so lustig…
Natürlich muss eine solche „Übersetzung“ des Geschehens nicht jedermann überzeugen, aber sie funktioniert zumindest auf weite Strecken durch klare, intelligente Durchführung. Im übrigen ist es immer noch eine Oper (auch wenn man das Original wohl nicht erkennt, wenn man es nicht kennt), also kommt es auf die Sänger an. Und sobald Diana Damrau auf der Bühne steht, bleibt kein Wunsch offen.
Die Damrau ist zweifellos eine besondere Erscheinung auf unseren Bühnen, nicht nur als exzeptionelle Sängerin – dieser schöne, klare, kräftige und dabei dank hervorragender Technik jedes Kunststücks fähige Sopran, ob Koloratur, ob Piano, ob herrliche Höhen, die Stimme leuchtet immer, es ist eine Wonne, ihr zuzuhören. Aber sie lässt sich auch – wie sie schon oft, zuletzt als „Harlot“ in diesem Haus bewiesen hat – auf alles ein. Hier parodiert sie die Yoga-Zicke so überzeugend, wie sie dann als echte Liebende kämpft: Ihr letztes Duett mit dem Bariton ist von explosiver Kraft. Kurz, man muss immer dankbar sein, sie zu sehen, und besonders froh darüber, dass ihr das Theater an der Wien immer wieder Aufgaben bietet, die sie offenbar mehr reizen als Routine-Lucias an der Staatsoper…
Dmitry Korchak, nicht so überzeugender Ramiro und glänzender Lenski der Wiener Staatsoper, scheint a priori nicht der richtige Typ für den Nadir zu sein, die Stimme hat einen zu harten Kern und an sich zu wenig Geschmeidigkeit. Stellt man das in Rechnung, leistet er noch immer Bemerkenswertes, hier französischen Belcanto zu liefern und das melodische Fließen der Stimme zumindest weitgehend zu bieten. Der Fall von Nathan Gunn als Zurga liegt auf andere Art ähnlich, auch er ist – obwohl der Inbegriff von einem kernigen Mann mit Dreitagebart – nicht unbedingt optimal, schon weil die Stimme einfach zu klein scheint und auch zu beansprucht, wenn die Tessitura etwas höher geht, aber es ist doch ein markiger, schön klingender Bariton. Idealbesetzungen wie die Damrau sind sie nicht, aber immer noch sehr gute Vertreter der Rollen, ebenso wie Nicolas Testé, ein potenter Baß, der die Figur des Nourabad (sprich: Dschungelcamp-Moderator) sicher seinen eigenen Fähigkeiten und nicht seiner Ehe mit der Hauptdarstellerin verdanken darf.
Jean-Christophe Spinosi realisierte Schönheit und Dramatik der Musik (beides reichlich, wenn auch der „Kick“ fehlt, der „Carmen“ zur Weltklasse macht) mit dem ORF Radio-Symphonieorchester Wien überzeugend, und wieder einmal ist der Arnold Schoenberg Chor (geleitet von Erwin Ortner) bewundernswert am Werk.
Es gab echten und uneingeschränkten Jubel für alle – Lotte de Beer ist etwas eingefallen und sie hat es durchgezogen, das ist eine Qualität. Dennoch ein ketzerischer Gedanke: Wie wäre es, wenn einer das wirklich Revolutionäre wagte und eine Oper wie diese in herrlich historischem Kitsch auf die Bühne stellte? Wäre doch mal eine Abwechslung…
Renate Wagner