Stuttgarter Ballett: „HOMMAGE À MACMILLAN“ 2.12. (Wiederaufnahme) – Ereignis zwischen Himmel und Erde
Obwohl seine großen Handlungsballette nicht im Repertoire des Stuttgarter Balletts sind („Manon“ wäre schon lange mal fällig), gehört Kenneth MacMillan zu den wichtigen Tanzschöpfern für diese Compagnie, hat er doch hier statt beim verweigernden heimatlichen Royal Ballet in London seine damals revolutionären Projekte des Choreographierens sakrosankter Werke von Gustav Mahler und Gabriel Fauré in die Tat umsetzen können und dem Publikum zwei der auch heute noch durch ihre musikalische Sensibilität und atmosphärischen Tiefgang bewundernswertesten Arbeiten für die Ballettbühne geschenkt.
Das Lied von der Erde: erfahrenes Trio – Jason Reilly, Marijn Rademaker und Alicia Amatriain (v.l.) in “Das Lied von der Erde”. Copyright: Stuttgarter Ballett
Der Größe von Mahlers später Vokalsinfonie „DAS LIED VON DER ERDE“ mit den von Hans Bethge aus dem Chinesischen übersetzten Gedichten entspricht ganz und gar der eine Welt umspannende Ausdrucks-Radius der Choreographie, wozu die rein vom Licht geprägte Bühne und die in erdigen oder herbstlichen Tönen gehaltenen Kostüme (beides: Nicholas Georgiadis ) ergänzenden Charakter haben. Zwischen Lebenszugewandtheit und Abgesang pendelt der aufs Wesentliche konzentrierte Ansatz des Schrittmaterials. Obwohl nicht als konkrete Handlung angelegt, kreist der Bogen der sechs Teile bzw. Lieder um eine Frau und einen Mann, auf deren Leben vom Todesboten, genannt dem Ewigen, immer wieder Schatten geworfen werden, bis im langen Abschied der Tod vorauszuahnen ist. Doch das Leben geht weiter, der immerwährende Kreislauf des Neuentstehens und Wiedervergehens steht als ewig gültige Metapher am Ende, wo die drei Hauptgestalten nebeneinander in ganz sparsamen Bewegungen immer weiter in den Hintergrund treten, während das verhauchende „Ewig“ der Singstimme unendlich weiterzuklingen scheint.
Für den zum Jahresende die Compagnie nach 15 Jahren verlassenden Marijn Rademaker ist diese letzte Stuttgarter Rolle fünf Jahre nach der vorhergehenden Aufführungs-Serie die denkbar idealste Gelegenheit, seine gebündelten Qualitäten einer ausgeglichenen Bühnen-Präsenz und einer ebenso weisen Interpretation wie untadeligen technischen Reife vorzuführen. Mit Halbmaske beherrscht er und mischt er sich ins Geschehen, vereinigt sich mit der Solo-Frau zu einem Pas de deux von stiller Größe, wo Alicia Amatriain als lyrische Poetin auf Spitze in ihrem Element ist und dankenswerterweise auf zu viel Mimik verzichtet.
Im Part des männlichen Solisten ruht Jason Reilly wie in sich selber, als wie immer zuverlässigster Partner, aber im Ausdruck etwas unverbindlich gleichmäßig, kühler als von ihm gewohnt. Oder es ist eine gewahrte Distanz zum elegischen Grundgehalt der Musik – ein bisschen Geheimes darf denn auch dabei sein.
Den Satz der Jugend führt Elisa Badenes mit ihrer lebensfreudigen Ausstrahlung und immer wieder staunenswert eloquenten Beinarbeit an, deren nachgezeichnete Figuren von (textimmanent) porzellan-gleicher Zerbrechlichkeit scheinen. Im „Von der Schönheit“ übertitelten Satz vollzieht sich die Begegnung einer Jungfrau mit einem Reiter, dem sie sehnsuchtsvolle Blicke nachwirft, in einem von Anna Osadcenko und Arman Zazyan klar und in schwebender Andeutung bleibenden Pas de deux. Der Einsatz vieler Solisten und Halbsolisten in den Gruppen-Aufgaben machte sich bezahlt und sorgte für einen geschlossenen Gesamteindruck.
Neben dem tänzerischen Geschehen lohnte es sich durchaus nicht nur der Musik, sondern auch deren Vokalstimmen zu lauschen. Erin Caves (am Haus derzeit parallel als Tristan voll gefordert) hatte für die extrem hoch liegenden Spitzen sicher nicht den besten Abend erwischt, aber er wurde mit seinem klangvoll, ausgewogen lyrischen wie dramatisch gestählten Tenor dem komplizierten Spagat zwischen liedhafter Leichtigkeit und überschwänglicher Durchsetzungsfähigkeit seiner in diesem tänzerischen Zusammensetzung undankbaren Aufgabe voll gerecht. Christiane Iven fehlen für den Mezzo- oder gar Alt-Part
die warmen dunklen Farben, doch erzielt sie mit ihrem weitgehend schlicht und mit klangvollem Piano eingesetzten Sopran die von Mahler intendierte Transzendenz.
Requiem: ergreifendes Duo – Myriam Simon und Constantine Allen in “Requiem”. Copyright: Stuttgarter Ballett
Nach der Pause folgte mit dem „REQUIEM“ MacMillans die geistliche Seite mit der Tröstung nach dem Tod. Das 1976 im Gedenken an den Freund John Cranko geschaffene und auf die damalige Situation des Stuttgarter Balletts nach dem Tod ihres genialen Kopfes zugeschnittene Werk hat auch nach immer größer werdendem zeitlichem Abstand nichts von seiner dringlichen Aussage-Intensität, geschweige denn von seinem letztlich zeitlosen Zuschnitt verloren. Faurés weitgehend nach innen gerichtete, wie bereits aus einer anderen Ebene als die des Lebens kommende musikalische Sprache lässt einen ganz hineintauchen in die bis zur paradiesischen Verklärung führende Meditation. MacMillan hat dafür Bilder von choreographischer Unbedingtheit gefunden, abwechselnd zwischen erhabener Schönheit und Mut zur Hässlichkeit, zwischen Fließen und Verkrampfen. Erschütternd unkonventionell sogleich der Beginn mit der ihre Fäuste nach oben ballenden Gruppe, die nach und nach besänftigt die Solistin als erlösende Mutter (damals Marcia Haydée) über ihre Köpfe hinaus tragen. Myriam Simon ist diese Lichtgestalt wie auf den Leib geschneidert, durchdrungen von Wärme und Liebe durchzieht sie mit zauberhafter Poesie und feiner Linie das ganze Stück. Intensiviert noch durch die Ausstrahlung ihrer Freude, nach einer gut einjährigen Babypause endlich wieder auf der Bühne stehen zu können. Alicia Amatriains Stärken für neoklassische Spitzen-Positionen kommt auch hier zum Zuge, jetzt aber in der Mimik etwas zu dramatisiert. Sicher, mit gesteigerter körperlicher Expressivität wird der erst 21jährige Erste Solist Constantine Allen dem erhöhten Erwartungsdruck in der führenden männlichen Solo-Rolle abseits von fixen Charakteren in hilfreichen Handlungsfäden erfreulich gerecht und findet mit Myriam Simon zu glücklichem Partnern. Alexander Jones besticht durch viel Hebekraft und intuitivem Dosieren melodramatischer Gebärdung. Im „libera me“ steht David Moore an der Spitze und wächst damit weiter an tänzerischer Mitteilsamkeit. Viele Debuts in den Gruppen auch hier, die allesamt zu einer synchronen Leistung gefunden haben. Von Rollentauschs und weiteren Debuts in nachfolgenden Aufführungen wird dann zu berichten sein.
Die im hinteren Orchestergraben unsichtbar bleibenden Solisten, Catriona Smith mit verinnerlicht klarem Sopran und Motti Kastons liedhaft schlankes und dabei gut zur Geltung kommendes Baritontimbre sowie das Fauré Vokalensemble intensivierten noch die verklärende Harmonik Faurés. Wo das Staatsorchester Stuttgart unter James Tuggle bei Mahler richtig symphonisch aufrauschen durfte, passte es sich nun dem verhaltenen, nüchtern stimmungsvollen Requiem-Ton an.
Wie gesagt: ein mit unermüdlicher Hilfe von Choreologin Georgette Tsinguirides auf Vordermann gebrachtes Programm mit Tiefenwirkung und weitgehend gerecht werdenden Tänzern, Sängern und Musikern. Und der Anlass zu nachhaltig von Berührtheit getragenem Applaus anstatt zu sonst euphorischen Ovationen.
Udo Klebes