Die Leiden des jungen Werther” im Schauspielhaus Stuttgart- FATALER BLICK IN DIE SEELENLANDSCHAFT am 21.1.2015
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Foto: JU_Ostkreuz
Goethes Briefroman “Die Leiden des jungen Werther” in der abwechslungsreichen Regie von Simon Solberg stellt die Geschichte einer verzweifelten Liebe in den Mittelpunkt. Ole Lagerpusch mimt den jungen Rechtspraktikanten mit starkem Körperausdruck, der sich in die von Julischka Eichel wandlungsfähig verkörperte Lotte bis zum Wahnsinn verliebt und daran zugrunde geht. Die bezaubernde Tochter des Amtmanns S. ist jedoch mit einem anderen verlobt – und man erfährt als Zuschauer gleich zu Beginn mit einem fatalen Blick auf die Seelenlandschaft von Werthers Selbstmord. Der Bauersbursch (grobschlächtig: Matti Krause) berichtet lakonisch vom Ende des Unglücklichen: “Man hatte Werther auf ein Bett gelegt, die Stirn verbunden, sein Gesicht schon wie eines Toten, er rührte kein Glied. man ließ ihm zum Überfluss eine Ader am Arme, das Blut lief, er holte noch immer Atem. Die Lunge röchelte fürchterlich, bald stark, bald schwach, man erwartete sein Ende. Um zwölfe mittags starb er.” Zuvor beschwört Simon Solberg eine slapstickhafte Opernprobe in einem recht mufffigen Büro-Zimmer, das sich aber alsbald in einen fantasievollen Wald verwandelt. Später nimmt man dann auf der Bühne eine Plakatwelt (“Carte Noir”) sowie die Trümmer eines Mobiliars wahr. Solberg lässt die Briefe, die Werther an seinen Freund Wilhelm schreibt, in den verschiedensten Seelenregungen Revue passieren. Werther steigert sich immer konsequenter in den Wahnsinn seiner unglücklichen Liebe hinein. Die “Krankheit zum Tode” ist so nicht mehr aufzuhalten und beherrscht schließlich völlig das ausufernde Bühnengeschehen. Zu Wagners “Walkürenritt” und Beethovens neunter Sinfonie erscheint sogar eine Berglandschaft in der Wüste. Der Hintergrund scheint sich immer weiter zu vergrößern.
Das bösartige und tödliche Fieber seiner Krankheit hat Werther hier ganz erfasst – und Ole Lagerpusch vermag die Verzweiflung des hoffnungslosen jugendlichen Helden mit einem irren Blick in die offene Kamera hervorragend zu verkörpern. Der von Gunnar Teuber mit unnahbarem Habitus gespielte Albert ist zunächst Lottes Verlobter und wird dann ihr Ehemann, wobei sich seine Eifersucht krankhaft zu steigern scheint. Dies gehört zu den psychologisch interessantesten Passagen dieser stellenweise brüchigen Inszenierung. Alberts Brutalität gegenüber seiner Frau Lotte (die er gegen das Klavier schleudert) wird zunehmend heftiger, er verbietet ihr schließlich den Umgang mit Werther. Werthers Zerrissenheit zwischen den Normen der Gesellschaft und seiner wachsenden Leidenschaft tritt bei dieser Inszenierung grell zutage. Dazwischen sieht man Werthers Einlagen als Rapper und ausgeflippter Hippie, der ständig über die Stränge schlägt und seine Umgebung bis zur Weißglut reizt: “Ich weiß nie, wie mir ist, wenn ich bei ihr bin; es ist, als wenn die Seele sich mir in allen Nerven umkehrte…”
Drastisch schildert Simon Solberg (Bühne und Kostüme: Maike Storf und Christina Schmitt, Video: Joscha Sliwinski) die grausamen Einschränkungen der sozialen Wirklichkeit, an denen Werther zerbricht. Daran können auch die nervlich bald ebenso zerrüttete Base (mit starker Präsenz dargestellt von Hanna Plaß) und sein besorgter Freund Wilhelm (emotional: Sven Kaiser) nichts ändern. Stark sind die Bilder, bei denen Werther sich in die Welt von Homers “Odyssee” versenkt. Hier verwandelt sich die Bühne plötzlich in ein nebeldurchwobenes Meer, das von gewaltigen Explosionen erschüttert wird. Das Schiff des Odysseus kentert – und die Ungeheuer Skylla und Charybdis verschlingen die Mannschaft. Werthers eigener katastrophaler Seelenzustand entwickelt sich dabei zu einer Irrfahrt der Gefühle.
Dieser Theaterabend soll laut Simon Solbergs eigenen Worten den “Grat zwischen Koma und Amok” ausloten. Darin besitzt seine Inszenierung auch ihre besondere Stärke. Wie Werther sich weigert, den Regeln der Gesellschaft zu folgen, arbeitet der Regisseur am überzeugensten heraus. Zum Schluss steht alles Kopf: “Ich habe zum letzten Male Feld und Wald und den Himmel gesehen, Wilhelm. Leb wohl auch du! Liebe Mutter, verzeiht mir! Tröste sie, Wilhelm! Ich gehe nur voran! Und warte bis ihr kommt.” Schließlich verlässt Werther die Bühne, eilt zum Ausgang und verkündet wiederholend: “Wir sehen uns wieder und freudiger.”
Die anderen Figuren haben bei Werthers Worten offensichtlich einen Elektroschock erlitten, die Luft ist bis zum Zerreissen gespannt. Seine Weigerung, den gesellschaftlichen Konventionen zu folgen, lässt auch Werthers Hang zu Kindern in immer stärkerem Maße hervortreten. Anna Gesche (bei den Aufführungen spielt sie abwechselnd mit Emma Oberpaur) mimt ein Kind, das unter dem Synonym “Herz” auftritt. Albert dagegen verkörpert bei Simon Solberg die “Gesellschaft der Angst” mit kollektiver Depression und Lähmung. Albert wehrt sich aber auch gegen den eigenen Untergang. Er möchte Werther im Kampf um Lotte besiegen. Die Radikalität und Sprengkraft des Textes setzt Solberg so drastisch auf der Bühne um. Unser heutiges Lebensgefühl tritt dabei ebenso hervor. Alle fünf Schauspieler und der Musiker versuchen, sich Werthers Briefen zu nähern – so werden die verschiedenen Gruppierungen der Gesellschaft beleuchtet. Die Suche nach der Lücke im Herzen ist nie abgeschlossen. Emotionen werden aus ökonomischen Gründen aus der Arbeitswelt verbannt. Das Phänomen “Liebe” wird von Forschern anhand alter Fälle von Affekten und Verbrechen untersucht. Die Schauspieler erhalten aber auch die Gelegenheit zur Improvisation. Werther fühlt sich so in der Leistungsgesellschaft fremd und unverstanden. Fasziniert ist er hingegen von den einfachen Menschen. Deshalb liegt Wahlheim bei Simon Solberg in den letzten Flecken unberührter Natur. Für den Regisseur ist Lotte Europa, sie kann einen persönlichen Wandel allerdings nicht vollziehen, will Sicherheit und Status nicht aufs Spiel setzen. Albert dagegen ist bei Simon Solberg “Wir”, die Erste Welt, der Westen mit allen Vor- und Nachteilen. Die Leistungsgesellschaft mit ihren wirtschaftlich motivierten Kriegen wird hier auch musikalisch aufs Korn genommen: “Ja, jetzt wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt…” Albert ist als Konstante der Grund, warum so viele zugrundegehen. Ob Werther im objektiven Sinne krank oder gesund ist, wird dem Publikum überlassen. Für die Personenkonstellationen hätte Simon Solberg bei der einen oder anderen Szene noch ein schärferes Auge haben können. Aber die alptraumhaften Visionen einer ausser Rand und Band geratenen Gesellschaft beschwört er glaubwürdig. Auch die suggestive Musik von Sven Kaiser passt zum aufwühlenden Geschehen. Solberg stellt fest: Mit Geld kann man sich alles kaufen. So überreicht Albert Lotte einen großen Scheck und lässt ihr damit keine andere Wahl.
Alexander Walther