Stuttgarter Ballett: „ONEGIN“ 8.+ 10.2. 2015– neue Kombinationen
Anna Osadcenko , Jason Reilly. Foto: Stuttgarter Ballett
Bereits ihre letzten Tatjana-Vorstellungen markierten in der Wandelbarkeit von einem in seiner Bücherwelt lebenden Backfisch zu einer sich der Realität fügenden Frau ein gestalterisches Erlebnis. Jetzt ist Myriam Simon erstmals nach ihrer Babypause mit der älteren der Larin’schen Töchter in eine abendfüllende Rolle geschlüpft und musste sich dabei der Konfrontation mit einem neuen Partner stellen, weil ihr ehemaliger Onegin Evan McKie die Kompanie inzwischen verlassen hat. Erhöhte Nervosität machte sich im ersten Akt im Spiegel-Pas de deux bemerkbar, wo sie trotz der Stärke und Sicherheit von Alexander Jones nicht so richtig abzuheben vermochte, die Aufschwünge flügellahmer wirkten als gewohnt. Diese Anspannung hatte dann im zweiten Akt eine durchaus positive Auswirkung, steuerte sie doch ihr Solo zu einem erregenden Antrag in Richtung des an einem Tisch gelangweilt Karten spielenden Onegin. Als in den letzten Zügen des Final-Pas de deux die Kräfte nachzulassen schienen, wurde bewusst, welche Leistung es bedeutet bereits fünf Monate nach dem Wiedereinstieg eine so fordernde Partie konditionell durchzuhalten. Diese Einschränkungen fallen aufgrund ihrer Nachvollziehbarkeit jedoch nur wenig ins Gewicht, auch weil ihre Kombination aus delikater lyrischer Linie und aparter ätherischer Erscheinung ansonsten voll zum Tragen kam und ihre Rollenverkörperung als Ganzes auch jetzt wieder so stimmig und authentisch ist in der Charakterisierung des zunächst schwärmerisch romantischen Mädchens und dann der zunächst gefassten, an der Seite von Nikolay Godunovs hocharistokratischem Gremin in sich ruhenden Dame der St.Petersburger Gesellschaft und beim Wiederaufeinander-Treffen mit dem sie nun bestürmenden Onegin die mit allen Fasern zwischen Beherrschung und Nachgiebigkeit hin und her gerissene Frau. Von Anfang bis Ende Mitgefühl und Mitleid zu erwecken – das hält ihre Tatjana nicht ganz optimalen Umständen zum Trotz ohne Nachlass unter Spannung.
Dem technisch zuverlässigen, im Großen und Ganzen sauber tanzenden Alexander Jones fehlte es zuerst noch an glaubwürdiger Blasiertheit, er setzte aber einige gut beobachtete Akzente wie das Klopfen auf Lenskis Schulter bei seinem wiederholt herausgeforderten Tanz mit Olga. Vollkommen überzeugte er dann als gebrochen zurück kehrender und als persönliche Interpretation auf sympathische Art um sein Glück kämpfender Onegin. Auch das beeinflusste die so lebensecht aufrüttelnden Empfindungen von Simons mit sich ringender Tatjana.
Wie Erfolg anspornt ist bei David Moore besonders gut nachzuverfolgen. Nach der Asien-Tournee im Herbst folgte nun auch sein Lenski-Debut zuhause, geprägt von lebhaft beherzter Emphase, mit der er dieser Prüfstein-Aufgabe des klassischen Balletts in schöner fließender Form im Pas de deux mit Olga, wirkungsvoll gesteigerter Eifersucht und musikalisch klar und leidvoll innig nachvollzogenem Klage-Solo um die vergangenen glücklichen Stunden vor dem Duell auf Anhieb eine sehr persönliche und beachtlich gefestigte Kontur gibt. Zweifellos eine kolossale Entwicklung, die der Brite innerhalb kurzer Zeit durchgemacht hat.
Die ebenfalls neue Olga an seiner Seite, die technisch sattelfeste Angelina Zuccarini mischte ihrer Lebenslust mehr Ernst bei als die meisten Rollenvorgängerinnen. Als neue Amme waltete die in Mütter-Rollen vielfach erprobte Angelika Bulfinsky mit liebevoller Dezenz ihres Amtes.
Zwei Tage später gab Anna Osadcenko ihr Stuttgarter Debut als Tatjana und kehrte die Verhältnisse gegenüber ihrer Kollegin um. Einer äußerst sicheren Technik, die auch dank der höchst zuverlässigen Partnerschaft durch Jason Reilly als nach wie vor etwas zu weichlichem, im Charakter dennoch markant gereiftem Onegin ein Lehrbeispiel ermöglichte, wie Pas de deuxs durch die leichte Umsetzung schwerster Kniffe ihre volle Größe entfalten können, eine Interpretation gegenüber, die speziell bei ihr als Landsmännin des bedeutenden literarischen Stoffes etwas mehr Einblick in die Seele Tatjanas erhoffen ließ. Am meisten ging sie in ihrem Traum mit dem durch einen Spiegel eintretenden Onegin aus sich heraus, auch ihre Solo-Avance gegenüber dem Ersehnten auf der Geburtstagsfeier bebte vor innerer Erregung. Meist ist es der Körper, der etwas von ihrem Inneren preisgibt, weniger die etwas strenge Mimik. Anfangs, dazwischen, vor allem aber als Lady Gremin an der Seite von Roland Havlica blieb sie sehr reserviert, fast kühl, und in der letzten Begegnung mit Onegin gar so hartherzig, als hätte sie von vornherein beschlossen ihn abzuweisen. Das Hin- und Hergerissensein dieses Gipfels aller Pas de deux ging dadurch verloren, das normalerweise erschütternde Zurückbleiben Tatjanas löste auch aufgrund zu viel händeringender Gestik kaum Emotionen aus, Reilly kämpfte flehentlich auf alleinigem Posten.
Ruiqi Yang, Pablo von Sternenfels. Foto: Stuttgarter Ballett
Eine wertvolle Chance bekam Halbsolist Pablo von Sternenfels als Lenski. Durchweg vorhandene Bühnenpräsenz und darstellerisches Temperament bestimmten seine Gestaltung, die im Pas de deux mit der ebenfalls debutierenden, leichtfüßigen und in der Rollenauffassung etwas oberflächlich bleibenden Gruppentänzerin Ruiqi Yang freilich noch etliche Ecken und Kanten aufwies, während das leidvolle Abschieds-Solo zwar noch nicht restlos geschlossen, aber doch mit beachtlicher aus der Musik geschöpfter Tiefe der Verzweiflung gelang. Eine ausbaufähige und viel Hoffnung für die Zukunft mitschwingen lassende Premiere für den Mexikaner.
Nach jahrelangen fixen Personalien gilt es nun sich bei Mutter Larina und der Amme an neue Gesichter zu gewöhnen. Sonia Santiago bringt als ehemalige Erste Solistin viel Frische in das Wesen der Mutter, während die Amme mit Gruppentänzerin Elena Bushuyeva vorerst mehr ernsthafte Freundin als gestandene Vertraute ist.
An beiden Abenden phasenweise unkonzentriert und überlaut in der Verwechslung mit Intensität entfaltete sich diesmal die Tschaikowsky-Atmosphäre durch das Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung von James Tuggle.
Udo Klebes