Foto: Website Thalia Theater, Copyright: Armin Smailovic
NÖ / ST. PÖLTEN / Landestheater:
FRONT
Polyphonie nach „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque,
„Le Feu“ von Henri Barbusse und Zeitdokumenten
Eine Koproduktion des Thalia Theaters, Hamburg
mit dem NTGent, Belgien
Premiere in Hamburg: 22. März 2014
Gastspiel in St. Pölten: Premiere 20. Februar 2015
Wie bringt man Krieg auf die Bühne? Die anderen Künste haben es leichter, jedenfalls die Literatur und der Film, wo es immer wieder gelungen ist. Aber ist der Schützengraben, wenn man das Problem aus der Sicht der unmittelbaren Akteure, der Soldaten, begreifen will, auf der Bühne umsetzbar?
Sicher nicht, und darum ist jene Lösung, die Regisseur Luk Perceval für das Hamburger Thalia-Theater (in Co-Produktion mit Gent) gefunden hat, um in zwei pausenlosen Stunden die Grauen des Ersten Weltkriegs so auf die Bühne zu bringen, dass man als Zuschauer Erkenntnisse, Erlebnisse und Erschütterungen daraus zieht, fast genial. Es ist mit den Mitteln des Theaters gemacht und doch nicht „Theater“, es basiert auf Texten aus erster Hand, die ohne „Handlung“ hingestellt werden und doch viel mehr als nur ein Hörspiel sind, es zwingt zu erfahren und zu erkennen, was man – jeder wird das offen zugeben – eigentlich so genau gar nicht wissen will… Aber man muss es wissen, und sei es nur, damit nie wieder ein einziger Mensch auf dieser Welt jubelnd in den Krieg zieht oder anhand der Tatsache eines Krieges etwas anderes als Abscheu und Entsetzen empfindet.
Luc Perceval und seine Dramaturgen gingen von einem der berühmtesten Antikriegsromane der Welt, von „Im Westen nichts Neues“ von Erich Maria Remarque aus, in dem der junge Soldat Paul Bäumer seine Erlebnisse an der Westfront in Belgien schilderte. Aber das war Perceval, dem Belgier, zu wenig – er wollte auch andere Stimmen einbringen, und so kam der Kriegsroman von „Le Feu“ von Henri Barbusse dazu, der das Thema von französischer Seite her behandelte. Dazu man hat noch viele Originaldokumente – Briefe, Tagebücher – herangezogen, um vor allem die belgische Seite (auf Flämisch und Wallonisch) zu Wort kommen zu lassen. Dazu gibt es noch Frauenfiguren, eine Mutter, eine Krankenschwester, weil man die „Mit-Leidenden“ offenbar nicht ausklammern wollte. Es ist ein viersprachiger Abend, was nicht in Deutsch gesprochen wird, findet sich auf einem Laufband im Hintergrund übersetzt, so dass man nie aus der „Information“ aussteigt.
Der Abend, der glücklicherweise auch einen zwei-abendlichen Gastspielabstecher nach St. Pölten machte, ist Information, und er macht, wie gesagt, kein “Theater ” im üblichen Sinn daraus. Die hier gefundene Gattungsbezeichnung Polyphonie zeigt, was beabsichtigt ist – die Vernetzung der verschiedenen Stimmen. Rein äußerlich wirkt der Abend auf Anhieb wie ein Konzert – die elf Protagonisten fast frontal zum Publikum, vor Notenpulten, die keine Noten enthalten, sondern nur Lampen, die dann auch dramaturgisch eingesetzt werden, mit Mikrophonen. Im Hintergrund, kaum zu sehen, ein einzelner Mann, ohne den der Abend nicht denkbar wäre – Ferdinand Frösch schafft mit Hilfe von Schlagzeug und einer genialen, aufwühlenden Geräusche-Dramaturgie die denkbar dichteste Umrahmung des Textes. Der Raum selbst (Annette Kurz) hat nicht mehr als eine gegliederte Hinterwand, auf der sich die Projektionen (Video: Philip Bußmann) so diskret abspielen, dass sie nicht ablenken.
Hier bekommt man also nichts vorgespielt, wenn sich auch nach und nach die Auflösung der starren Strukturen in hervorragender Theaterlogistik abspielen. Hier muss man zuhören. Hören, was man nicht wissen will und was nicht nachdrücklicher vermittelt werden kann als durch Einzelschicksale – das unvorstellbare Elende im Schützengraben; die Brutalität der Vorgesetzten; das Leiden der Sensiblen; die markigen Propagandasprüche; die schauerlichen, fast unausdenkbaren Variationen des Grauens; die grenzenlosen Möglichkeiten des elenden Todes; und immer Dreck, Hunger, Krankheit, Nässe, Kälte und letztendlich, wenn es dann zu den Kampfhandlungen kommt, die jeder fürchtet, das Verrecken…
Macht sich eine Gesellschaft eigentlich je bewusst, was sie den Männern antut, die sie unbedacht in solche Qualen schickt? Und Stalingrad im Zweiten Weltkrieg, und Vietnam, und die Wüstenkriege der Amerikaner – ist irgendetwas für die Männer an der Front „besser“ geworden? Dass man angesichts des Wahnsinns, der einem hier vor Augen geführt wird, aufschreien möchte – mehr kann ein solcher Abend, gerade weil er bewusst so schonungslos wie stellenweise fast unerträglich ist, nicht leisten.
Vielleicht ist es die Figur des Emiel Seghers auf der belgischen Frontseite, die in der schlichten, dichten Darstellung von Oscar van Rompay am meisten in die Seele trifft, vor allem, wenn er von einem so sadistischen Vorgesetzten wie seinem Landsmann, dem Französisch sprechenden Lieutenant De Wit (schrecklich überzeugend: Steven van Watermeulen) gedemütigt wird. Immer wieder erzählt seine Mutter von Zuhause (Katelijne Verbeke).
Auf deutscher Seite ist es Remarque-Held Paul Bäumer (Bernd Grawert), der immer wieder das Wort ergreift, doppelt gehetzt von Burghart Klaußner (unvergessen u.a. in Hanekes „Das weiße Band“), entweder als Lehrer, der die halbwüchsigen Schüler in den Krieg treibt, oder als alter Soldat Katczinsky.
Gerade, weil hier das menschlich-weibliche Element eingebracht werden soll, wirkt die Figur der englischen Krankenschwester (Oana Solomon) einen Hauch von kitschig. Des Thalia jüngster Schauspieler hingegen, der 23jährige Steffen Siegmund als Rekrut, der das Leid der Tiere im Krieg nicht mitansehen kann, ist die vollkommene Verkörperung einer strahlend-schönen Jugend, die in so vielen Kriegen vernichtet wurde.
Patrick Bartsch, Benjamin-Lew Klon, Peter Seynaeve, Gilles Welinski komplettieren das uneitle Ensemble, in dem es immer um die Sache geht, nie um den „Auftritt“ eines Einzelnen.
War es Geschichtsunterricht? Das auch, und zwar in hohem Maße. Aber letztendlich sind es die Menschengeschichten, die uns aus der Distanz von hundert Jahren erreichen und uns unendlich viel sagen. Das Publikum löste sich aus seinem Schock und jubelte, wie es der Abend verdient hat.
Renate Wagner
Wiederholung: heute in St. Pölten, es gibt noch Karten