“Das Mädchen aus der Streichholzfabrik” als Gastspiel des Schauspielhauses Bochum im Schauspielhaus Stuttgart
VIELE BEKLEMMENDE BILDER
Gastspiel des Schauspielhauses Bochum am 20. Februar 2015 im Schauspielhaus/STUTTGART
Maja Beckmann, Daniel Stock. Foto: Arno Declair
Theaterstücke mit filmischer Grundlage sind immer interessant. Nach dem Film von Aki Kaurismäki war nun im Schauspielhaus als Gastspiel des Schauspielhauses Bochum das Stück “Das Mädchen aus der Streichholzfabrik” zu sehen. Im Film wie im Theaterstück wird nicht viel gesprochen. In der subtilen Regie von David Bösch und in der weiteren Bearbeitung von Sabine Reich steht Maja Beckmann als Iris ganz im Mittelpunkt des Geschehens. Nur wenige Worte genügen dem finnischen Regisseur Aki Kaurismäki, um diese beklemmende Geschichte von Iris zu erzählen, die tagsüber in einer Streichholzfabrik arbeitet. Das Schönste, das Iris in ihrer Welt findet, ist ein Kleid mit roten Blumen, das sie sich kauft. Maja Beckmann vermag die Stimmungsschwankungen der jungen Frau einfühlsam einzufangen. Für eine Nacht erobert sie damit den von Daniel Stock mit undurchsichtiger Aura verkörperten Aarne, der sie allerdings wieder von sich wegstößt, nachdem er sie zuvor geküsst und geliebt hat: “Ich fand’ s wunderschön letzte Nacht…” Sie ist aber von Aarne schwanger – und als sie ihm dies mitteilt, will er von dem Kind nichts wissen: “Sieh’ zu, wie du das wieder los wirst”. Damit nimmt die Katastrophe ihren Lauf, was die Inszenierung von David Bösch in dichten Szenen fesselnd einfängt. Denn jetzt entfernt Iris alle Menschen systematisch aus ihrer Welt. Kopflos stürzt sie auf die Straße.
Dieses berührende Märchen spielt nicht nur in der riesigen Fabrikhalle, sondern auch im Tanzrestaurant und in der Diskothek, wo Iris in einer bewegenden Szene Aarne kennenlernt. Es erklingen bekannte Songs wie “Love me tender” und “Time goes by”. Man träumt von Lottogewinnen und einem besseren Leben, fordert das Recht auf eigenen Lohn und denkt an eine Arbeiterrevolution. Daniel Stock mimt auch Iris’ Bruder Simo wandlungsfähig, der dem Geschehen hilflos zusehen muss. Anne Knaak stellt die Mutter von Iris ausdrucksvoll dar, während Matthias Redlhammer Iris’ Stiefvater mit fast stoischem Gleichmut verkörpert. Die Eltern werden mit der aufmüpfigen Tochter ungeduldig und hoffen, dass sie auszieht. Iris möchte sich zuletzt aus Liebeskummer vergiften, doch es trifft die Eltern, die leblos auf den Tisch sinken. Sie wird schließlich von zwei Männern in Zivil abgeführt, während sich Aarne undurchsichtig aus der Affäre zieht.
Alle Figuren scheinen hier tatsächlich ihr Gedächtnis zu verlieren. Sie befreien sich nicht und fallen aus allen ihren Bindungen heraus. Dies gilt hier insbesondere für die von Maja Beckmann souverän verkörperte Iris. David Bösch bringt diesen Film mit starken und reduzierten Bildern auf die Bühne. Er wagt mutig einen tiefen Blick in die Seele. Der Vorspann des Theaterstücks läuft zum Betrieb in einer Streichholzfabrik ab. Am Ende der Produktionsmaschine arbeitet Iris, die Hauptfigur, Alter um die 22 Jahre, Haare hell, der Arbeitskittel ebenfalls. Sie fährt wild strampelnd auf einem Rad. Es wird deutlich, wie sehr Iris von ihrer Arbeit entfremdet worden ist. Für die Mittagspause wird das Fließband abgestellt und Iris verzehrt ihren Proviant in der Ecke des Aufenthaltsraumes. Nachdem sie ausgestempelt hat, fährt Iris mit der Straßenbahn quer durch die Stadt, tief versunken in ihre Wochenendlektüre. Aber sie kommt mit ihrer Umgebung nicht zurecht, die einzige Hoffnung ist Aarne, in den sie sich verliebt hat. Aber Aarne fühlt sich in Iris’ Umgebung unwohl, er will mit Sozialhilfeempfängern nichts zu tun haben. Für ihn ist Iris eine graue Maus, die dazu noch glaubt, sie sei seine Herzallerliebste. Immer wieder regnet es goldene Konfetti oder Streichhölzer herab. Das sind hier bittere Illusionen. Dies gibt der Inszenierung (Bühne: Franziska Gebhardt; Kostüme: Anna Maria Schories) etwas Surrealistisches. Drei Ratten reichen Iris dann das verhängnisvolle Giftfläschchen, das die Handlung tragisch bestimmt.
Manchmal scheinen bei dieser Inszenierung die Kulissen tatsächlich einzustürzen. Iris’ Lebensrhythmus wird dabei in atemlosen Bildern nachgezeichnet: Aufstehen, Straßenbahn, vier Stunden Fabrik, dann wieder Essen und Straßenbahn…David Bösch arbeitet bei seiner Inszenierung suggestiv heraus, wie sich eines Tages in der jungen Frau die entscheidende Frage nach dem “Warum” erhebt. Maja Beckmann kann diesen inneren Wandlungsprozess sehr einfühlsam transportieren – vor allem dann, wenn sie in Tränen ausbricht. Da stürzt die Welt ein. Mit der Feindseligkeit der sie umgebenden Welt wird Iris nicht fertig, sie zerbricht daran. Und dies vor allem dann, als Aarne die Schwangere verlassen hat. Diese Bilder prägen sich beim Zuschauer stark ein und lassen ihn nicht mehr los. Iris telefoniert mit Aarne wie hinter einer Glaswand – und wird von ihm abgewiesen. Im trügerischen Gleichmut des Alltags verliert sie aber nicht ihre Lebenssehnsucht, was bei dieser Inszenierung ebenfalls sehr eindringlich zur Geltung kommt. Für die Darsteller gab es begeisterten Schlussapplaus.
Alexander Walther