“Der Idiot” von Dostojewskij im Kammertheater Stuttgart/Schauspiel Stuttgart
DIE DÄMONISCHEN KRÄFTE DES HERZENS
“Der Idiot” von Dostojewskij am 1. März im Kammertheater/STUTTGART
Peter René Lüdicke. Foto: Conny Mirbach
Martin Laberenz (Bühne und Licht: Volker Hintermeier; Kostüme: Aino Laberenz) hat den Roman “Der Idiot” von Fjodor Dostojewskij etwas ungewöhnlich für die Bühne bearbeitet. Ein Stahlgerüst beherrscht die Szene, an dem die Schauspieler heraufklettern. Der Live-Musik von Friederike Bernhardt mit Chopin-Walzer und “My Way” kommt eine große Bedeutung zu, stellenweise wird die Musikerin mit ihren subtilen Klangwolken auch in die Handlung mit eingebunden. Im Hintergrund sieht man einen offenen Sarg, in dem ein toter Christus liegt. Das erinnert an die Inszenierung von Bachs “Actus tragicus” durch Herbert Wernicke in der Staatsoper. Alles endet in einer dichten Rauchwolke, denn es werden bei der Inszenierung nahezu siebzig Zigaretten geraucht. Auf der linken Seite der Bühne befinden sich abgestellte Gemälde und ein Sofa, das immer wieder hin und her transportiert wird. Der Boden ist mit Manuskriptseiten übersät. Manolo Bertling mimt recht unschuldig den “wahrhaft guten Menschen” Fürst Myschkin, der offen und zuvorkommend ist und den gerade deswegen alle für einen Idioten halten. Ironische Bezüge zu Stuttgart und seinen oftmals bornierten und beengten Verhältnissen stellt Martin Laberenz ganz bewusst her. Dieser naive Fürst befindet sich auf der Rückreise von seinem Schweizer Sanatoriumsaufenthalt nach Petersburg. Manolo Bertling macht durchaus suggestiv deutlich, wie ihn die Kräfte des Herzens immer wieder überwältigen und täuschen. Er geht offen auf die Menschen zu und erntet wegen seiner “guten Art” aber nur Spott und Ablehnung. Gut herausgearbeitet hat Laberenz die verhängnisvolle Begegnung des Fürsten Myschkin mit dem von Paul Schröder cholerisch-schroff verkörperten Kaufmann Rogoschin. Hier beginnen auch bei dieser stellenweise mit Leerläufen und Langatmigkeit kämpfenden Inszenierung die tragischen Beziehungsgeflechte zwischen den Personen, in denen sich vor allem Fürst Myschkin wie in einem Spinnennetz rettungslos verfängt. Manja Kuhl vermag der wunderschönen blonden Nastassja eine undurchsichtige Aura zu geben, die die Männer virtuos wie Schmetterlinge einzufangen vermag. Und die Männer ziehen sich vor ihr aus, wetteifern in einer großen Nacktszene um ihre Gunst. Diese groteske “Peep Show” hinterlässt bei Nastassja aber kaum Wirkung, denn sie liebt in Wahrheit den Fürsten Myschkin, was von diesem durchaus erwidert wird. Sie gibt ihm letztendlich aber einen Korb, weil sie sich zu schlecht für solch einen guten Menschen hält. Das stellt die Inszenierung grell und glaubwürdig heraus.
Susanne Schieffer, Manolo Bertling. Foto: Conny Mirbach
Paul Schröder macht als Rogoschin unmissverständlich klar, dass auch er Nastassja liebt, sie aber nicht haben kann und deswegen zeitweise völlig ausflippt. Da wird die Bühne zum Irrenhaus. Schröder wird sogar an einem Seil heruntergelassen, was aber nicht richtig gelingen will, was einen fast dilettantischen Eindruck hinterlässt. Einen weiteren starken Auftritt hat Caroline Junghanns als Aglaja, die den unglücklichen Fürsten in ein noch tieferes Liebeschaos stürzt. Die Käfte des Herzens sind plötzlich nicht mehr beherrschbar. Dieses gnadenlose Auseinanderbrechen der seelischen Balance hat Martin Laberenz am besten herausgearbeitet. In seiner Unschuld und Güte bringt Myschkin alles um sich herum in Aufruhr. Vor allem die beiden Frauen Nastassja und Aglaja streiten sich um den unentschlossenen Fürsten Myschkin. Manja Kuhl und Caroline Junghanns nützen diese verzwickte psychologische Situation schauspielerisch sehr souverän und geschickt für sich aus, da kommt Spannung auf, die bis zuletzt glücklicherweise nicht verschwindet. Enttäuscht wendet sich Aglaja schließlich von dem Fürsten ab, der nicht die Kraft besitzt, sich von Nastassja zu trennen. Am Ende der Inszenierung sieht man Nastassja hilflos zwischen dem Fürsten Myschkin und dem Kaufmann Rogoschin sitzen: “Mach’ doch bitte einfach das Licht aus und lass’ mich sterben…” Sie sehnt ihren Tod geradezu herbei – und es wird endgültig dunkel. Der Zuschauer bleibt hilflos mit seinen vielen Fragen zurück. Dass der Fürst nach einem weiteren epileptischen Anfall endgültig wieder in das Schweizer Sanatorium zurückkehren muss, bekommt das Publikum nicht mehr mit. Auch dass er Rogoschin mit der von diesem ermordeten Leiche Nastassjas wiederfindet, bleibt im Ungewissen. Martin Laberenz lässt recht überzeugend deutlich werden, dass Myschkin auch wegen seiner Lauterkeit und Toleranz für die Gesellschaft zum Problem wird. Die Grenzen des traditionell festgefügten Systems werden so bewusst verwischt und drohen zu zerbrechen. Dagegen begehren alle auf – insbesondere der als Erzähler und Schriftsteller mit quälender Endlosigkeit agierende Peter René Lüdicke. Er sitzt sich intensiv mit der Leuchtschrift “There Will Be No Miracles Here” auseinander, die über dem Bühnenhimmel steht. Zu allem Überfluss geht er dabei auch noch auf den aktuellen Spielplan des Stuttgarter Schauspielhauses ein. Da fühlt man sich als Zuschauer nicht mehr so richtig ernst genommen – zumal es in Berliner Dialekt zu endlosen und quälenden Monologen kommt. “Das Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung kommen in der Menschheit einander gleich!” heißt es in Dostojewskijs Roman “Der Idiot”. Doch die handelnden Personen enden hier reihenweise in der Selbstzerstörung. Zumindest diesen Aspekt hat Martin Laberenz packend umgesetzt. Wie im richtigen Leben. In weiteren Rollen überzeugen bei dieser trotz allem spannungsvollen Inszenierung Abak Safaei-Rad (Frau Lisaweta), Susanne Schieffer (talentierte Studentin der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart) sowie Christian Schneeweiß. Insgesamt wäre eine kürzere Version der Aufführung aber wünschenswert, denn viele Zuschauer hielten die marathonhafte Ausdehnung der Handlung bis um ein Uhr nachts nicht mehr durch. Das ist schade, denn das Wichtigste kommt hier wirklich zum Schluss. Wie sehr Dostojewskij ein Gottsucher war, kommt hier zu wenig zum Vorschein. Auch der russischen Seele hätte man in diesem Zusammenhang mehr Aufmerksamkeit schenken können. Im Programmheft steht zwar die Erzählung vom “Großinquisitor” – aber bei den zentralen Auseinandersetzungen um die “nihilistische” Weltsicht spielt dieses religiöse Thema dennoch kaum eine Rolle. Statt dessen ergeht man sich in Hinrichtungsfantasien. Fazit: Weniger wäre deutlich mehr gewesen. Es hätte die Zuschauer mehr ergriffen.
Alexander Walther