4. Liedkonzert im Mozartsaal der Stuttgarter Liederhalle – EXPLOSIVE STIMMWUNDER
Niccolo Jommelli im Mittelpunkt des 4. Liedkonzerts der Oper Stutttgart am 4. März 2015/STUTTGART
Legendär war die Tätigkeit des italienischen Opern- und Kirchenkomponisten Niccolo Jommelli am Stuttgarter Hof des Herzogs Carl Eugen. 15 Jahre schrieb Jommelli in Stuttgart Operngeschichte. Dieses Konzert machte das Publikum mit seiner hochvirtuosen und zugleich psychologisch sensiblen Textausdeutung bekannt. Vor allem begeisterten die hervorragenden sängerischen Leistungen. Zunächst wurde das stimmungsvolle Konzert mit dem Staatsorchester Stuttgart unter der impulsiven Leitung von Bernhard Forck mit der Sinfonia zur Oper “Demofoonte” von Niccolo Jommelli glanzvoll eröffnet. Subtile melodische Gesten und spannungsvolle harmonische Interpunktion ergänzten sich gegenseitig in reizvoller Weise. Auch die Terzen gemahnten immer wieder an Wolfgang Amadeus Mozart. Mit sphärenhafter Leichtigkeit musizierte hier das sehr gut disponierte Staatsorchester Stuttgart. Mit weichem und leuchtkärftigem Timbre gestaltete dann Helene Schneiderman (Mezzosopran) die Arie des Timante “Misero me!” Dabei wurde deutlich, dass Jommelli ein Meister des Accompagnato ist. Die Handlung ist hier ebenfalls ungewöhnlich: Timante ist in heimlicher Ehe mit Dircea verbunden. Diese Ehe muss er ebenso wie das gemeinsame Kind verbergen. Aber sein Vater hat eine politische Heirat mit der Prinzessin Creusa vorbereitet. Durch ein Schreiben von Dirceas Vater glaubt Timante, das Inzestverbot übertreten zu haben, da Dircea offensichtlich seine Schwester ist. Diese dramatischen Akzente waren bei Helene Schneidermans voluminöser und seelenvoller Wiedergabe ausgezeichnet herauszuhören. Man begriff, dass Jommelli mit seiner Musik in die Seelen der Figuren hineinhorchte und damit Mozart unmittelbar beeinflusste. Einen reizvollen dynamischen Kontrast bot daraufhin die rasante Wiedergabe von Baldassare Galuppis Concerto a quattro Nr. 4 c-Moll mit seiner sprühenden kontrapunktischen Satztechnik. Chromatische Seufzerfiguren und Unisono-Passagen ergänzten sich mit formaler Präzision und spieltechnischer Eleganz. Lauryna Bendziunaite (Sopran, Litauen) und Helene Schneiderman brillierten daraufhin imposant bei den spannungsvoll-elektrisierenden Szenen “Ma chi s’appressa” und “Fermati!” aus der Oper “Demofoonte” (1764) von Niccolo Jommelli. Hierbei gewannen die Stimmen immer größere Intensität und Strahlkraft. Vor allem die südkoreanische Sopranistin Yun-Jeong Lee und Helene Schneiderman passten bei der weiteren Szene “Sposo.-Consorte.” und dem schwungvollen Duett von Timante und Dircea “La destra ti chiedo” bestens zusammen. Da kam es zu immer explosiveren harmonischen Höhenflügen und arabeskenhaften Figurationen, die hell aufblitzten. Das Staatsorchester Stuttgart unter der höchst konzentrierten Leitung von Bernhard Forck überraschte das Publikum bei der feurigen Wiedergabe der Sinfonia aus Jommellis Oper “Fetonte” mit kapriziös-nervöser Emphase und virtuosem Fluss, der die Sonatensatzform durchbrach. Auch die Handlung von “Fetonte” ist recht kompliziert: Die verwitwete Climene schildert ihre Bedrängnis. Der ägyptische König Epafo verlangt ihre Tochter Libia zur Frau. Andernfalls droht Krieg. Libia aber liebt ihren Stiefbruder Fetonte. Teti spielt Climenes Befürchtungen herunter: Epafo werde die Gefühle der treuen Liebenden nicht abkühlen können. Bei der Sinfonia steht ein vom Staatsorchester Stuttgart aufwühlend interpretiertes Erdbeben im Mittelpunkt, das die Grotte der Meeresgöttin Teti bei einem Priesterballett zum Einsturz bringen soll. Gewaltige Crescendo-Steigerungen wirkten bei dieser Wiedergabe ungewöhnlich modern und fesselnd. Die Titelpartie des Fetonte komponierte Jommelli übrigens für den Kastraten Giuseppe Aprile (1732 bis 1813). Yun-Jeong Lee erfüllte die Arie der Teti mit grandiosen Koloratur-Kaskaden, die sich immer stärker verdichteten. Zuvor konnte Lauryna Bendziunaite das Publikum mit überaus tragfähiger stimmlicher Mittellage und Mezza-voce-Effekten für sich einnehmen. Der Zauber der Neapolitanischen Schule machte sich immer wieder ausdrucksvoll bemerkbar. Das Staatsorchester Stuttgart unter der einfühlsamen Leitung von Bernhard Forck interpretierte die wertvolle Sinfonia d-Moll des 1711 in Wien geborenen Ignaz Holzbauer mit dezenter Eleganz. Die zentrale und vom Staatsorchester präzis ausgekostete Fuge stellt eine Hommage an den Meister des Kontrapunkts, Fux, dar. Eine differenzierte Orchestersprache, reiche Motivik und überraschende Wendungen sowie harmonische Vielschichtigkeit wechselten sich hierbei ab. Zum Abschluss glänzte nochmals die ausgezeichnete Helene Schneiderman bei der glutvoll gesungenen Arie des Fetonte “Ombre, che tacite” aus Jommellis Oper “Fetonte”. Dabei gewann die Stimme einen immer größeren Radius und klangfarblichen Reichtum, was zu berechtigten Ovationen des Publikums führte. Nicht weniger enthusiastisch war zuletzt die Reaktion der Zuhörer bei der von Yun-Jeong Lee mit vibrierender Kraft und federnden Spitzentönen dargebotenen Arie der Climene “Tu m’offri un regno in dono?” Mit zahlreichen Tremolo-Effekten antwortete das Staatsorchester auf die gesanglichen Herausforderungen und ungeheuren Höhenflüge. Ein Blumenmeer dankte den drei wundervollen Sängerinnen für diesen bewegenden Abend.
Alexander Walther