Dortmund: Don Giovanni Premiere am 8.März 2015
Der Regisseur Günther Rennert ließ 1968 in einem Interview verlauten, er glaube bei „Don Giovanni“ nicht an die Möglichkeit, “für diese Partitur auch nur annähernd eine szenische Entsprechung finden zu können.“ Wenn man die aktuelle Dortmunder Inszenierung gesehen hat, darf man dieser Aussage widersprechen. Sie bereitet nämlich Herzklopfen und Gänsehaut, verfolgt einen fast bis in den Schlaf hinein. Das Dortmunder Publikum reagierte mit Ovationen seltenen Ausmaßes.
Hausherr JENS-DANIEL HERZOG möchte das Geschehen der Oper so nahe wie möglich an das Publikum herantragen. So sind die Philharmoniker, von dem ungemein tempofixen GABRIEL FELTZ unter Dauerstrom gesetzt, auf der Hinterbühne platziert (ähnlich wie vor kurzem in Wuppertal). Von der Registerarie und der Koordination Livemusik/Bandzuspielungen im ersten Finale abgesehen bewirkte das in der Premiere keinen Nachteil. Der Gesang wirkt jetzt zudem dringlicher als üblich, die Stimmen rücken einfach näher. Der Orchestergraben ist überdeckt. Im dekorlosen Raum stehen Stühle aufgereiht (Bühne: MATHIS NEIDHARDT, die neutralen Kostüme – mit etwas Glamour bei Giovannis Fest – stammen von SIBYLLE GÄDEKE). Auf ihnen nehmen peu à peu die Protagonisten der Oper mit Gesicht zum Publikum Platz, als wollten sie einer Theatervorstellung beiwohnen. Aber sie spielen bereits kommendes Bühnengeschehen an. So beginnt „Zuschauer“ Giovanni ohne Umschweife ein heftiges Techtelmechtel mit der durchaus willigen Donna Anna. Das Geschehen hinter der Szene während der Introduktion wird somit auf einmal in helles Licht gerückt. Die danach nicht „benötigten“ Darsteller entfernt Herzog auf witzige Weise. So erhält Ottavio einen Handy-Anruf, und Masetto wird von einem Hustenanfall heimgesucht.
Hier wirkt gewissermaßen noch das „Giocoso“-Element, aber auch der Ernst des Dramas wird bereits unmissverständlich ins Bild gesetzt. Obwohl der historische Don Juan ein Mantel-und Degenheld war und als solcher so manchen Gegner niedergestreckt haben dürfte, wirkt für ihn in Dortmund der Tod des Komturs wie ein Belsazar-Menetekel. Der Komtur erscheint auch im Finale des 1. Aktes, auf dem Friedhof hört nur Giovanni seine Stimme, nicht aber Leporello. Die Ansprache an das Standbild ist nur Ausführung eines Befehls. Zum letzten Male sieht man den Mahner aus dem Jenseits inmitten des schwarzgekleideten Ensembles. Mit gezückten Messern sitzt es mit steinernem Gesicht da, zerfetzt schließlich von hinten Giovannis Leib, eine Szene, welche dem nächtlichen Ritual im Film „Mord im Orientexpress“ gleicht. Wilde Rache, aber auch Beruhigung des Herzens?
Eine vollständige Schilderung von Herzogs konzeptionellen Varianten der originalen Opernszenen würde zu einer unendlichen Geschichte ausufern. Pars pro toto also. Wenn Donna Anna ihren Verlobten Don Ottavio auf Rache an ihrem ermordeten Vater einschwört, regen sich in ihr gleichzeitig wollüstige Erinnerungen an die Vergewaltigung kurz zuvor. Der arme Ottavio weiß nicht, wie ihm geschieht, als ihm fast die Kleider vom Leib gerissen werden. Welche Furie hat sich dieser Gentleman da als Verlobte erkoren? Etliche Szenen weiter. Ottavio scheint willens, Giovanni zu erschießen. Der aber geht ruhig auf ihn zu und küsst ihn lange auf den Mund. Ottavio sinkt schluchzend zusammen, wurde er doch mit einem ihm unbekannten, verdrängten Gefühl konfrontiert. Das “Il mio tesoro intanto“ ist nur noch eine Schutzbehauptung, und Donna Annas späteres „Non mi dir“ gewinnt einen neuen Hintergrund. Das „Vedrai, carino“ soll eigentlich dem verprügelten Masetto Trost spenden. Aber Zerlina singt den Schlussteil Giovanni zu – und Masetto bekommt das mit. Die facettenreichste Figur in dem doppelbödigen Spiel ist fraglos Donna Elvira, die Rachefurie, welche ihre Leidenschaft für den erotischen Weltenbummler Giovanni nie ganz aufzugeben schafft. Eine „tragische Scheuche“, um es mit Worten Edda Mosers auszudrücken.
Jens-Daniel Herzogs Inszenierung ist geradezu überschwemmt von Aufdeckungen geheimer Seelenregungen. Keine der Opernfiguren hat ein wirklich authentisches Dasein. Uneingestandene Sehnsüchte werden von Don Giovanni, dem nihilistischen Erotomanen, schmerzhaft ans Tageslicht gezerrt, zu blutenden Wunden aufgerissen. Ihr Ausleben wäre diesen angepassten Menschen nicht möglich. Wie sie sich in ihrem künftigen Leben arrangieren – wer weiß? Freilich hat auch der Freigeist Giovanni seinen Tribut zu entrichten, ob in seiner Angst auch wirklich reuig, muss offen bleiben. Jens-Daniel Herzogs seelische Tiefenlotung ist so aufregend wie beunruhigend. Kein empfindsamer Zuschauer dürfte die Aufführung ohne Erschütterung verlassen.
Den Sängern sieht man an, dass sie Herzogs Konzept mit Überzeugung ausleben. In LUCIAN KRASZNECs Gesicht beispielsweise spiegelt sich nachhaltig die Betroffenheit Ottavios über sein Outen. Dass der oft bewährte und auch diesmal seinen maskulinen Tenor vorteilhaft in Feld führende Sänger die beiden Arien lyrisch nicht ganz makellos bewältigt, könnte man fast schon rollenpsychologisch deuten. Wunderbar besetzt die weiblichen Partien: ELEONORA MARGUERRE ist eine sopranleuchtende, koloratursichere Donna Anna, ebenbürtig EMILY NEWTON als Donna Elvira, ihrer Rolle entsprechend im Ausdruck etwas zupackender. Die Zerlina gibt TAMARA WEIMERICH als kesses junges Mädchen, fernab von Soubretten-Nippes. Auch der Leporello von MORGAN MOODY kommt ohne Buffo-Klischees aus, singt so markant wie parlando-leicht. Durch den rustikal wirkenden, mit einem volltönenden Bass aufwartenden SAGMIN LEE erhält der etwas stoffelig angelegte Masetto mehr Gewicht als üblicherweise. Den Komtur umreißt HANS SIST zufriedenstellend. Und der Titelheld? GERARDO GARCIANO ähnelt ein wenig Jack Nicholson, ist also nicht das, was man einen Beau nennen würde. Aber er besitzt genügend erotische Ausstrahlung und wirkt in Stimme und Spiel enorm wendig und auftrumpfend, lässt dabei die brutalen Züge Giovannis deutlich werden.
Das „Moral“-Sextett nimmt das Bild vom Beginn wieder auf: gesittete Besucher bei einer Theatervorstellung. Aber dann beginnt Leporello am Bein der neben ihm sitzenden Elvira herumzufingern. Gott Amor schließt schon wieder Pfeile – und die Oper könnte von neuem beginnen. Ironischer Akzent nach einem schwarzen Drama mit tödlichem Ausgang.
Christoph Zimmermann