Platee von Rameau in der Staatsoper Stuttgart – EINE GRAUSAME VERWANDLUNG
Rameaus “Platee” in der Staatsoper Stuttgart am 22. März 2015/STUTTGART
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Foto/ Staatsoper Stuttgart / A.T. Schaefer
Jean-Philippe Rameaus komödiantisches Meisterwerk “Platee” in der subtilen Inszenierung von Calixto Bieito ist wieder ins Repertoire der Stuttgarter Staatsoper zurückgekehrt. Dass Rameau hier auf die Karte des Rundum-Schauspiels gesetzt hat, lässt der Regisseur trotz mancher Abstriche und dramaturgischer Schwächen deutlich werden. Dies zeigt sich nicht nur bei der “Arie für fröhliche Narren” und der “Arie für traurige Narren”. Der Gegensatz der Charaktere kommt auch in Lydia Steiers lebendiger Choreographie zum Ausdruck. Bieito zeigt in seiner Inszenierung Rameaus Meisterwerk als eine Oper voller Barock und Avantgarde. Die Kostümbildnerin Anna Eiermann verwandelt die Szenerie hier in einen legendären Nachtclub – nämlich das berühmte New Yorker Studio 54. Die Mode der 1970er-Jahre öffnet die Tür in die französische Aristokratie: Manschetten, breite Krägen, enge Hosen, hohe Absätze, lange Haare. Vor den Augen des Publikums will diese illustre Gesellschaft ein “neues Schauspiel” erfinden. Rameaus Entscheidung, die weibliche Titelrolle für einen Tenor zu schreiben, sorgte im 18. Jahrhundert für großes Aufsehen. Calixto Bieito schildert die Geschichte der Sumpfnymphe Platee als die Geschichte eines Transvestiten, der völlig aussichtslos nach Anerkennung seiner Identität sucht. Als der mannstollen Sumpfnymphe Platee der höchste aller Götter einen Heiratsantrag macht, ahnt sie nicht, dass Jupiter und seine Männer lediglich einen üblen Streich im Sinn haben, der Jupiters Göttergattin Juno von ihrer Eifersucht befreien soll. So wird die große Hochzeitsparty zu einer grotesken Huldigung von “La Folie” (der Torheit selbst), die mit ihren irrwitzigen Gesängen alle betört. Als Platee schließlich von der Menge bloßgestellt wird, ist sie das einzige menschliche Wesen in einer unmenschlichen Gesellschaft. Calixto Bieito stellt bei seiner vielschichtigen Inszenierung Himmel und Erde auf den Kopf. Die lüsterne Gesellschaft tummelt sich in der Sumpfatmosphäre zwischen quakenden Fröschen. Jupiters Gattin Junon gebiert unter dem Geschrei der Menge sogar ein kleines Ungeheuer. Viele Lichteffekte kommen dabei zum Einsatz: Kronleuchter fahren langsam herunter und beleuchten so viele Spiegelbilder. Die Bühne von Susanne Gschwender beschwört eine Fülle von Leuchtkörpern: Das Aufklärungszeitalter lässt grüßen. Das Bühnenbild arbeitet immer wieder mit skulpturalen Mitteln, man wird als Zuschauer an einen barocken Ballsaal genauso erinnert wie an die Live-Atmosphäre eines Rock-Konzerts, das “La Folie” gestaltet.
Für Calixto Bieito war die Besetzung der weiblichen Titelpartie mit einer Tenorstimme der entscheidende Ausgangspunkt. Ihr Liebeswunsch ist so groß, dass sie tatsächlich glaubt, von Jupiter begehrt zu werden. Es kommt zur grausamen Verwandlung eines Mannes in eine Frau. Der Götterbote Merkur und der König des griechischen Kithairon-Gebirges, Kitheron, werden in Calixto Bieitos Regie zu den “Maschinisten” dieser bitteren Komödie. Lydia Steier sorgt bei ihrer Choreographie für zahlreiche rhythmische Finessen. Anlehnungen an das Ballett der Opera buffa werden ganz bewusst gesucht. Und die Figuren hängen einmal sogar wie hilflose Marionetten in den Seilen. Bieito hat bei seiner Inszenierung allerdings immer wieder neue und erfrischende Einfälle: Die Protagonisten betreten beispielsweise auch die Sitzreihen im Zuschauerraum. Platee setzt sich einfach auf einen leeren Platz. Bei ihrer Enttarnung durch die eifersüchtige Juno wird die Sumpfnymphe bespuckt. Man reisst ihr gnadenlos die Perücke vom Kopf. Windmaschinen simulieren Sturm- und Gewitterszenen. Einmal erkennt man die Queen unter den Darstellern.
Der schottische Tenor Thomas Walker brilliert in großartiger Weise in der Rolle der Sumpfnymphe Platee mit Koloraturen, graziösen Figurationen und Verzierungen. Dies beweist er insbesondere bei der diffizilen Arie “Je m’attendris” mit einer atemlosen Aufeinanderfolge unterschiedlicher Tempi und mit einem dezent hervorgehobenen Rhythmus. Hans Christoph Bünger betont als Dirigent die Vielschichtigkeit des Satzes und der Melodie. Langgezogene Schnörkel lassen nicht nur bei den Arien Platees wiederholt an die Allüren der italienischen Bravourarie denken. Plötzliche Tempowechsel in der Ouvertüre betont Bünger aber nicht übermäßig. Rhythmische Lebendigkeit gipfelt in ausrucksvollen Trommelwirbeln, und auch der Kuckucksruf lässt an die Art der Opera buffa denken. In der Chaconne stellt Bünger dann den Eindruck falschen Pomps sehr wirkungsvoll heraus. Und die niederländische Sopranistin Lenneke Ruiten gibt als “La Folie” ihr beeindruckendes Stuttgarter Debüt mit leuchtkräftigen Spitzentönen. Unter der impulsiven musikalischen Leitung von Hans Christoph Bünger kann sich Jean-Philippe Rameaus Musik in ihrem ganzen Klangfarbenreichtum und ihrer ungewöhnlichen Modernität glänzend entfalten. Dies gilt insbesondere für die Motivierung der musikalischen Bewegung sowie die dynamisch fein differenzierten Wechsel von Moll nach Dur. Tempo, Nuancierung und gleiche Dauer der Achtelnoten geraten nie aus dem Gleichgewicht. Die Vierteltöne von E bis F kommen nuanciert zum Ausdruck, als Momus ankündigt, Platee seine Tränen darbringen zu wollen. Das Staatsorchester leistet hier ganze Arbeit. Der Staatsopernchor meistert unter der Leitung von Johannes Knecht rhythmisch komplizierte und chromatisch dichte Passagen mit elektrisierender Klarheit und Leuchtkraft. Pizzicato-Sequenzen und präzise Glissando-Passagen der Streicher runden diesen bemerkenswerten Klangeindruck ab. Melodische Ausdrucksmittel und suggestive Klangfarben stehen im Mittelpunkt und werden präzis herausgearbeitet. Obere Diskantstimmen und Bässe treten allerdings nicht übermäßig hervor, so wird immer wieder orchestrale Transparenz beschworen. Die relative Unterbestzung der Flöten in dieser Partitur ist bei dieser musikalisch hochrangigen Aufführung kaum zu spüren. In ungemein spöttischem Unterton melden sie sich nämlich als Piccolo oder Flageolett. Die Oboen imitieren facettenreich die Sprache der Frösche. Hans Christoph Bünger ist es bei seinem Dirigat vortrefflich gelungen, durchsichtige Passagen zu beschwören, die den ausführenden Künstlern bei den gesanglichen Herausforderungen genügend Freiraum geben. Das tiefe Cis der Passepieds im ersten Akt ist ungeheuer schwer und kaum zu bewältigen. Von den Sängerinnen und Sängern gibt es nur das Beste zu berichten. In weiteren Rollen begeistern auch schauspielerisch Maria Theresa Ullrich als Jupiters eifersüchtige Ehefrau Junon, Yuko Kakuta als Platees Freundin Clarine, Mirella Bunoaica als Muse der komischen Theaterkunst Thalie, Shigeo Ishino als Gott des Spottes, Momus, Cyril Auvity als Götterbote Mercure und Thespis sowie Andre Morsch als Citheron und “Un Satyre”. Andreas Wolf als fulminanter Göttervater Jupiter, Herma Perkams (Iris), Conny Eilenstein (Weingott Bacchus) sowie Lydia Blankenhorn und Jaqueline Skupin als voluminöse Nymphen runden dieses hervorragende Sängerensemble ab. Die Uraufführung von “Platee” im Jahre 1745 bereitete der Rivalität zwischen den Anhängern Lullys und denen Rameaus übrigens ein Ende. Calixto Bieitos Inszenierung ist jedenfalls eine würdige Entdeckung dieses virtuos-feurigen Meisterwerks.
Alexander Walther