STUTTGART: DER ROSENKAVALIER – SZENEN AUS DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION
Stefan Herheims “Rosenkavalier” am 12. April 2015 wieder in der Staatsoper/STUTTGART
Simone Schneider (Marschallin), Sophie Marriley ((Octavian), Foto: A.T.Schaefer
2009 war die Premiere von Richard Strauss’ “Rosenkavalier” in der stark surrealistischen Inszenierung von Stefan Herheim, die jetzt in der Staatsoper ihre Wiederaufnahme erlebt. Der norwegische Regisseur ist für diese Arbeit 2010 in der “Opernwelt”-Kritikerumfrage als “Regisseur des Jahres” ausgezeichnet worden. Und man kann sagen – zurecht. Diese 1911 uraufgeführte “Komödie für Musik” von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal wird hier als beklemmendes Traumspiel inszeniert, wobei gleich das Vorspiel besondere Intensität bestizt. Die von Simone Schneider mit erstaunlicher Intensität und stimmlicher Konzentration dargebotene Feldmarschallin sitzt allein auf einer Bühne, die von einem riesigen Sternenhimmel beherrscht wird. Als sie in den Spiegel schaut, erhebt sie plötzlich ihre Faust und zertrümmert ihn. Es wird hier der Bruch mit dem Bild als repräsentierende Gattin des Fürsten Werdenberg vollzogen. Sie leidet unter einseitiger sexueller Befriedigung. Sehnsüchte und Traumwelten werden dabei in opulenten Bildern auf einer drehbaren Bühne beschworen. Rokoko, Walzerseligkeit und menschliche Abgründe tun sich imaginär auf. Die Oper macht bei dieser Inszenierung das Alter zum zentralen Thema. Es folgt ein melancholischer Rückblick der Feldmarschallin auf das eigene Leben. Und man begreift die persönliche Tragödie hinter der scheinbaren Komödie. Strenge höfische Etikette zersplittert, Spiegel- und Zeitsplitter beherrschen die Szene, wobei sich die Welt aus einzelnen Aspekten zusammenzusetzen scheint. Die barocke Welt erscheint hier wie ein Gemälde von Hans Makart. Der von Sophie Marilley mit vielen Schattierungen gesungene Octavian ist nicht nur jugendlicher Liebhaber der Feldmarschallin, sondern ein “Traumbild”, das in die Welt der Feldmarschallin gleichsam hineinschwebt. Die weibliche Seite des Octavian kommt dann bei der Verkleidung in die Zofe Mariandel sehr plastisch zum Vorschein. Der barocke Olymp wird bei dieser Inszenierung von vielen Tiergestalen bis hin zum überdimensionalen Vogel Strauß beherrscht, der später vom brutalen Ochs von Lerchenau böse malträtiert wird. Die Bühne verwandelt sich ständig, wobei durchaus die Gefahr der visuellen Überfrachtung entsteht. Man sieht immer wieder ein groteskes Satyrspiel, das sich noch zuspitzt, als der von Friedemann Röhlig sehr burschikos verkörperte Baron Ochs von Lerchenau in die beschauliche Welt der Feldmarschallin hineinbricht. Er mutiert schließlich selbst zum Faun oder Satyr, als er sich die Perücke abnimmt. Die panischen Ängste der Feldmarschallin vor dem Älterwerden brechen voll auf, als Ana Durlovskis stimmlich abgerundete Sophie die Szene betritt und Octavian in ihren Bann zieht. Da setzen sich die starken erotischen Gefühle durch, vor allem als sich Sophie und Octavian im zweiten Akt bei der berühmten Rosenüberreichung ihre Liebe gestehen. Ochs von Lerchenau stört die Atmosphäre zwischen Marschallin und Octavian gleich zu Beginn äusserst empfindlich, als er sie um einen Notar und einen Brautwerber bittet. Er hat es natürlich völlig ungeniert auf die blutjunge Sophie abgesehen, wobei Friedemann Röhlig hierbei auch schauspielerisch überzeugt. Und er ist von seinen Gefühlen immer mehr hin- und hergerissen und schlittert in die persönliche Katastrophe gnadenlos hinein, denn zuletzt muss er vor der geifernden Menge bekennen, dass man ihn gefoppt hat.
Stefan Herheim gelingt es bei seiner subtilen Inszenierung, die dionysische Potenz des Ochs bloßzustellen. Beim Eintreffen der Sittenpolizei bricht das große Tohuwabohu aus. Herheim weckt jedoch auch aufregende Bezüge zur Französischen Revolution, denn die Faun-Gestalten tragen plötzlich abgeschlagene Köpfe auf ihren Spießen und beschwören damit eine unheimliche Atmosphäre, die sich immer weiter verdichtet. Zeitbezüge zum Wien Kaiserin Maria Theresias werden so bewusst hergestellt, denn deren Tochter wurde ja als Königin Marie Antoinette in Frankreich 1793 hingerichtet. Zuweilen erscheint Ochs von Lerchenau wie ein fremdgehender Jupiter in Tiergestalt. Häuserfassaden öffnen und drehen sich, ein anderes Mal verdichtet sich die Salon-Atmosphäre zu einem irrealen Spektakel, wobei der halb wache, halb schlafende Ochs auf dem Bett liegt und von einer Satyr-Gestalt geneckt wird. Verschiedene Zeitschichten begleiten auch die Auftritte von Sophie, die schließlich ganz zu ihrem Octavian findet, während die Feldmarschallin verzichten muss. Die Tierfiguren symbolisieren dabei gleichsam die chaotische Innenwelt der Feldmarschallin. Zuletzt wird die Feldmarschallin wie ein Engel sphärenhaft auf einem Halbmond herabgelassen, während der als Idiot enttarnte Ochs von Lerchenau wie auf einer Rakete in den Himmel geschossen wird. Das sind überaus witzige und gelungene Einfälle des Regisseurs Stefan Herheim (Bühne: Rebecca Ringst; Kostüme: Gesine Völlm). Herheim hat die Traumwelt des Rokoko dabei ganz bewusst erweitert. Nebel umhüllt den Sternenhimmel, die Ballustraden und Häuser scheinen sich zuletzt zu öffnen, ein Vorhang wird heruntergelassen, so entsteht ein blauer Salon, der den konzentrierten Blick auf ein psychologisches Kammerspiel freigibt. Denn die verzichtende Feldmarschallin ist schließlich eine bemitleidenswerte Figur, die fast an sich selbst zerbricht, was Simone Schneider hervorragend über die Rampe bringt. Zuletzt sieht man keinen Neger, der Sophies Taschentuch findet und hinaustrippelt, sondern einen Faun, der dann im Hintergrund verschwindet, nachdem er als Zuhörer beim großen Schlussterzett Qualen gelitten hat.
Der umsichtige Dirigent Marc Soustrot leistet mit dem Staatsorchester Stuttgart bei dieser Produktion ganze Arbeit. Lyrische Legato-Bögen und mächtige dynamische Steigerungen hat er voll im Griff. Die Vorbilder Mozart und Wagner werden keineswegs geleugnet, aber vor allem die verschwenderische melodische Kraft der Partitur kommt hier sehr schön zur Geltung. Und selbst die zarteren Tönungen gehen nicht unter. Vokale und instrumentale Elemente werden vom Dirigenten in einer sinnvollen Balance gehalten. Soustrot legt zwar großen Wert auf Schönklang, verschweigt aber keineswegs die dissonanten und “modernen” Passagen, die ganz versteckt an “Salome” und “Elektra” erinnern. Vor allem die großen Ensembleszenen besitzen hier großartige Schlagkraft. Dies gilt insbesondere auch für den von Johannes Knecht wieder einmal sehr sorgfältig einstudierten Chor und Kinderchor, die gesangliche Inspirationskraft scheint dabei ungebrochen zu sein. So kann man auch die Trauer der Marschallin in deren intensivsten Kantilenen deutlich vernehmen, wobei die thematischen Zusammenhänge reizvoll hervorblitzen. Die Duette der Liebenden und das grandiose Terzett der drei Frauenstimmen im Schlussakt gehören zu den großen Höhepunkten dieser musikalisch reichen Aufführung. Da regiert wunderbare Ekstase. Die breitausladenden Passagen sowie die dynamischen Kontraste stechen hervor.
In weiteren Rollen begeistern Rebecca von Lipinski als Jungfer Marianne, Michael Ebbecke als voluminöser reicher Neugeadelter Vater Sophies Faninal, Torsten Hofmann als Intrigant Valzacchi, Stine Marie Fischer als Annina und Mark Munkittrick als famoser Polizeikommissar und Notar. Ferner überzeugen noch Heinz Göhrig (Faninals Haushofmeister, Wirt), Gergely Nemeti (Sänger), Claudia Votteler, Cristina Otey, Gudrun Wilming (drei adelige Waisen), Karin Horvat (Modistin) und Alois Riedel (Tierhändler). Peter Schaufelberger, Urs Winter, Steffen Balbach, Henrik Czerny sind die vier devoten Lakaien der Feldmarschallin, während Sebastian Bollacher, Ulrich Wand, Ulrich Frisch, Yehonatan Haimovich, Kristian Metzner, Sebastian Peter und Sasa Vrabac die beweglichen Satyre und Lerchenauer mimen. Ivan Yonkov, Rüdiger Knöß, Daniel Kaleta und Thommaso Hahn stellen die vier humorvollen Kellner dar – und Ulrich Frisch verkörpert einen servilen Hausknecht. Thomas Schweiberer rundet dieses bemerkenswerte Ensemble schließlich als Pan (kleiner Mohr, Leopold, Flötist, Arzt, Kellner) ab. Der geschmeidige und pointierte Parlandoton blitzt immer wieder reizvoll hervor. Und die ariose Verdichtung bei den Höhepunkten erreicht eine ungeahnte Klangfülle. Selbst der an “Ariadne auf Naxos” gemahnende Buffo-Stil kommt nicht zu kurz. Und auch für die Differenzierung der Straussschen Motivtechnik beweist Marc Soustrot als Dirigent großen Sinn, wenngleich manche Feinheiten sogar noch genauer betont werden könnten. Die szenische Einstudierung der Wiederaufnahme besorgte übrigens Anja Nicklich. Für ihr Rollendebüt als würdevolle Feldmarschallin erhielt vor allem Simone Schneider frenetischen Publikumsjubel. Sie passte sich dem geheimnisvollen Zauber der Fin-de-siecle-Welt bestens an.
Alexander Walther