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STZTTGART/ Schauspielhaus: IM STEIN von Clemens Meyer. Der Radiomoderator als Hurentester

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Im Stein” von Clemens Meyer im Schauspielhaus Stuttgart

DER RADIOMODERATOR ALS HURENTESTER

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Premiere von “Im Stein” von Clemens Meyer am 18. April 2015 im Schauspielhaus/STUTTGART

Für viele Zuschauer war die völlig ausufernde Inszenierung von Sebastian Hartmann offensichtlich zu viel. Vier volle Stunden wollten sie nicht absitzen und verließen deswegen vorzeitig den Saal. Mit der suggestiv eingesetzten Live-Kamera von Jochen Gehrung, Julian Marbach und Matthias Maciej Rolbiecki nimmt hier die flirrend-dämonische Großstadt Gestalt an. Licht und Video von Voxi Bärenklau beherrschen die Szene. Auch die Kostüme von Adriana Braga Peretzki passen sich in ihrer erschreckenden Vielfalt dem Rotlichtmilieu an. Huren und Zuhälter stehen frontal im Zentrum des Geschehens. Man sieht eine Prostituierte bei der Arbeit, und ein gealterter Jockey sucht krampfhaft seine verlorene Tochter. Ins Alberne verzerrt sind die Szenen mit dem verrückten Radiomoderator Ecki, der als Hurentester per Mikrofon neue Tipps und Adressen verrät. Alles gerät außer Rand und Band. Das Rotlichtmilieu spielt hier total verrückt. Dazu hört man “Siegfrieds Tod” aus Richard Wagners “Götterdämmerung” – eine Szene, die einen seltsamen Eindruck hinterlässt. Ein irrer Kommissar tappt im Moor herum und sucht zwanghaft nach einer verwesten Leiche. Grausig-komische Momente wechseln sich mit eher misslungenen Sequenzen ab.

Die Inszenierung krankt eindeutig an Langatmigkeit. Besser gelingen jene Szenen, wo korrupte Geschäftsmänner mit allen Mitteln um ihr Glück mit dem Kapital kämpfen. “Das Kapital” von Karl Marx hat den 1977 geborenen Autor Clemens Meyer auch zu diesem Roman inspiriert, für den er den Bremer Literaturpreis erhielt. “Alice im Wunderland”, Hubert Fichtes “Die Palette” oder die Märchen der Brüder Grimm haben Meyer ebenfalls zu diesem Werk angeregt, das von einem Exzess in den anderen rutscht. Der Zuschauer kommt nicht zur Ruhe, wird pausenlos malträtiert und mit Gewalt, Gier und Macht überschüttet. Die Huren sprechen teilweise eine literarisch überhöhte Sprache, sie sind bereit, die Männer kompromisslos zu verführen und auszunehmen. Zuweilen erscheinen die visuellen Eindrücke verschoben und verwischt. Und die Protagonisten versuchen dabei vergeblich, sich im unbeschreiblichen Chaos Regeln zu verschaffen. Es entsteht ein dämonischer Strom, der alle mitreisst und an sich selbst verzweifeln lässt. Das endet auch in der völligen körperlichen Zerstörung, zuletzt sieht man einen abgehackten Kopf, der an Richard Strauss’ Oper “Salome” denken lässt. Ein Transvestit hält ihn wie eine grässliche Trophäe dem Publikum vor. Die Prostituierten erscheinen dabei tatsächlich wie verwunschene Prinzessinnen, die sich nach einem besseren Leben sehnen. Arnold Kraushaar, der als AK 47 besser bekannt ist, führt hier seit Mitte der 90er Jahre die Fäden in der Stadt zusammen. Sein bester Freund Hans (“der kann’s!”) will nicht ganz so hoch hinaus wie er – er betreibt ein klassisches Bordell mit Barbetrieb. Durch den verhängnisvollen Kontakt mit einem japanischen Diamantenhändler scheitert er an einem Deal. Er wird erpresst, begeht einen Mord und wird schließlich selbst umgebracht. Auch Politik und Justiz werden von Clemens Meyer gnadenlos angeprangert. Das gleiche gilt für die korrupte Medienwelt um den Radiomoderator Ecki, der die Frauen ebenfalls gnadenlos ausnimmt und schlecht behandelt. Der Stein ist hierbei eine Immobilie, die auf alle eine seltsame Faszination ausübt: “Sag’ mir, wo die Steine sind!?” Der Blick in den Stein verspricht Orientierung – was sich jedoch als grausame, trügerische Täuschung erweist. Auf dem gesamten Personal liegt ein Fluch, immer wieder sieht man den Teufel in leibhaftiger Gestalt – man denkt unwillkürlich an Roman Polanskis Gruselschocker “Rosemaries Baby”. Der Satan “fickt” die Huren.  Aber auch Assoziationen zu den wilden Amokläufen von Martin Scorseses “Taxi Driver” tun sich auf. Dabei wird über “zwei kleine Zuhälter im neuen Deutschland” gespottet.

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Abak Safaei-Rad. Foto: JU-Ostkreuz

Die Darsteller Manolo Bertling, Sandra Gerling, Manuel Harder, Horst Kotterba, Janine Kreß, Christian Kuchenbuch, Manja Kuhl, Abak Safaei-Rad, Holger Stockhaus, Birgit Unterweger und Chizuru Sasaki gehen allesamt bis an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Deutlich und sehr gut hat Sebastian Hartmann als Regisseur das grausame Leiden der Protagonisten am Rotlichtmilieu herausgestellt (“Ich brenne!”) – dazu gehört auch die unmenschliche Misshandlung der Prostituierten. Die Menschen zerbrechen an der Verlogenheit der Verhältnisse, gehen unter in Sodom und Gomorrha. Ebenfalls ein ausgezeichneter Regie-Einfall ist die suggestive visuelle Verbindung von mittelalterlichen Gemälden im Stil von Hieronymus Bosch oder Renaissance-Bildern aus der Michelangelo-Zeit mit den schmerzverzerrten Gesichtern der Huren und Zuhälter. Hier hat Sebastian Hartmann eine erschütternde Zeitlosigkeit geschaffen. Wenig gelungen erscheinen dabei allerdings die Donald-Duck-Figuren, die den Handlungsablauf ins Lächerliche ziehen. Zuletzt treten alle Schauspielerinnen und Schauspieler an die Rampe aus dem “filmischen Element” heraus. Birgit Unterweger hat hier nochmals einen überzeugenden Auftritt als traumatisierte Prostituierte, die wie in Trance auf ihren Freier einredet. Auf der drehbaren Bühne sieht man immer wieder einen Würfel, der vom Live-Schnitt Merten Lindorfs geprägt ist (Dramaturgie: Katrin Spira). Die Ton-Statisterie (Sebastian Kiefer, Arife Kowal und Björn Lorenz) ergänzt die irrealen, schmerzhaften, aber auch ermüdenden Passagen. Für das Regieteam gab es “Buhs”, aber auch Bravorufe. Das Publikum war offensichtlich geteilter Meinung.

 Alexander Walther

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