Baden-Baden: „GIDON KREMER – SÄCHSISCHE STAATSKAPELLE – THIELEMANN 24.05.2015
Gidon Kremer, der ungewöhnliche, flexible Violinist erwies sich in den letzten Jahrzehnten als Spezialist und Pate zeitgenössischer Werke u.a. von Henze, Glass, Pärt und auch von Sofia Gubaidulina, deren „1. Violinkonzert – Offertoirum-„ 1981 von Kremer „getauft“ wurde.
Nun brachte Gidon Kremer das „2. Violinkonzert – In tempus praesens“ (UA 2007 A. S. Mutter) im Festspielhaus zur Aufführung. Enorm dramatisch in der Aussage erscheint das Werk der tatarisch-russischen Komponistin, gleich auf der Suche nach Wahrheit und Schönheit. Verzweifelt schön klingt denn auch oft der Ton Gidon Kremers in den stratosphärischen Höhen, fast unbeeindruckt von den Stürmen des tiefen, orchestralen Blechs. Klangliche Gegensätze wirken teils extrem, teils auch witzig an und der Solist meistert die kantilenenhaften Sequenzen mit glühendem Ton und eleganter Noblesse.
Poetische, traumhafte Momente dieses interessanten Werkes verbinden sich konträr mit sirenenartigen, gewaltigen Fanfaren und lassen die Zuhörer in einem Wechselbad der Extreme zurück. Grandios empfand ich Kremers schlanken, geschmeidigen Ton, die lichtdurchflutete Transparenz des meisterhaften Spiels. Für mich persönlich, eine Entdeckungsreise par excellence! Ich werde in Kürze meine Diskothek mit beiden Konzerten erweitern. Von frischem Wind getragen schienen die Interpreten die Sächsische Staatskapelle Dresden unter der genialen Stabführung von Christian Thielemann, spürbar miteinander zu atmen und sich gegenseitig auf so wunderbare Weise zu inspirieren. Hervorragend musizierten die Dresdener animiert von ihrem Meister-Dirigenten diese futuristischen, homogenen Orchesterklänge.
Das Publikum schien zunächst leicht irritiert, spendete jedoch reichlich Beifall und wurde nach Ansage Kremers mit „Requiem“ (Igor Svoboda), „Zum Gedenken der Leiden der Ukrainer“ belohnt.
Nach der Pause zogen mich die sächsischen Gäste mit ihrem Chefdirigenten Christian Thielemann mit Anton Bruckners „Neunter“ wiederum in ihren magischen Bann und wähnte mich der Welt abhanden gekommen. Dieses unvollendete, zwischen 1887-1896 komponierte Werk ragt durch die herbe Kühnheit ihres frühexpressionistischen Ausdrucks, sowie die einschüchternden Dimensionen ihrer Steigerungen, aus dem symphonischen Schaffen Anton Bruckners hervor.
Neuartig erscheinen die „gotischen“ Klangstrukturen, die bizarren, weitgespannten Intervalle der Melodik in ihrer imposanten Konsequenz. Thielemann verbindet die ungemein differenzierte Harmonik, deren polyphone Intensität meist in scharfe wiederholte, unaufgelöste Disonanzen mündet, in himmelstürmende Steigerungen. Der Deutung stehen Tür und Tor offen, schon allein durch das Bruckner-Wort: „Dem lieben Gott“!
Feierlich, misterioso wird die dreigliedrige Einleitung bezeichnet, gleichsam dem latenten Programm des gesamten Werkes. Nach dreimaligem Oktavensturz setzt scharf rhythmisch gefärbt, das Hauptthema im Unisono des großen Orchesters, dem gewaltigsten Gebilde der Symphonik ein. Pizzicato-Töne leiten das Scherzo ein, vermitteln nach wenigen Takten eine unheimliche Klangsphäre welche in raschen Steigerungswellen, die gesamte Klangfülle Bruckners offenbaren. Impressionistisch erscheint der Dialog der Streicher mit den Holzbläserführungen im sich steigernden Tuttiklang.
Wunderbare Töne der Violinen eröffnen das Adagio im reizvollen Anschwillen der fulminanten Holz- und Blechsegmente. Leisen, zarten Stimmungen setzt Thielemann gewaltige Orchestereruptionen entgegen. Sind mir die Eindrücke der ersten Begegnung des Dirigenten und seiner Bruckner-Interpretation noch immer unauslöschlich allgegenwärtig, ich wähnte damals mein Sitz hebe ab, hinterließ nun dieses neue Erleben ähnliche Wahrnehmungen. Christian Thielemann scheint sich mit dem akribisch präzise, musizierenden Orchester zur gleich atmenden Einheit, aus einem Guss zu verbinden. Das Resultat: Klangentladungen von äußerster Intensität und Schönheit, schier endlos verhallend in entrückter Coda.
Diese Interpretation dürfte wohl kaum zu toppen sein! Nach langer, sehr langer Pause und wieder aus höheren Sphären, auf dem Boden der Realität eingefunden, meinte mein Partner: dafür gebe ich einige Traviatas hin! Kompromisslos musste ich dem zustimmen.
Vermutlich erging es dem größten Teil des Publikums ebenso, die Bravostürme wollten nicht enden.
Gerhard Hoffmann