Fotos: Wiener Staatsoper / Pöhn
WIEN / Staatsoper:
PETER GRIMES von Benjamin Britten
34. Aufführung in dieser Inszenierung
Wiederaufnahme
23. November 2013
Wer wird nicht einen Britten loben? Doch wird ihn jeder sehen wollen? Nein!
In Anlehnung an diesen Sinnspruch von Lessing (Wer wird nicht einen Klopstock loben?/Doch wird ihn jeder lesen? – Nein./ Wir wollen weniger erhoben /und fleißiger gelesen sein) kann die Paraphrase nur lauten: Er sollte weniger erhoben und fleißiger gespielet sein…
Nun hat die Wiener Staatsoper hundert Jahre und einen Tag nach Benjamin Brittens Geburt am 22. November 1913 eine der berühmtesten seiner 12 Opern auf den Spielplan gesetzt, den „Peter Grimes“. Die Produktion des Hauses hat es in ihren 17 Jahren seit der Premiere am 12. Februar 1996 zu gerade 33 Aufführungen gebracht, die letzte vom Oktober 2006 liegt auch schon sieben Jahre zurück. Aber kann man es einem Haus verübeln, wenn der Publikumszustrom sich dermaßen in Grenzen hält (zumal am Stehplatz)? Und das war schade, denn man erlebte zumindest musikalisch eine ganz vorzügliche Aufführung.
Die Inszenierung von Christine Mielitz hat ein Werk, das ganz fest in realen Milieu eines kleinen englischen Fischerstädtchens verankert ist, in eine schwammige Irrealität gerückt, die sich kaum je darum kümmert, was auf der Bühne konkret geschehen soll. Sie begnügte sich damit, den Chor als Kollektiv zwar mit allerlei sinnlosen Aktionen zu belegen, aber im Ganzen als bedrohliche Menge doch sehr stark zu führen. Wenn Darsteller der Nebenrollen sich im Geschehen herausheben konnten, war es ihre persönliche Stärke. Sehr geholfen hat die Inszenierung weder dem Werk noch den Interpreten.
Brittens tragische Außenseitergeschichte, die in der Beziehung des Titelhelden zu den kleinen Jungen, die ihm beim Fischen helfen müssen, fraglos etwas Peinliches hat (ein Artikel in der „Zeit“ überlegt sogar, ob mögliche pädophile Tendenzen des Komponisten weniger verwerflich seien, wenn sie in Brittens Variationen des „Boy“, des Jungen, so vielfachen künstlerisch Ausdruck gefunden hätten….), bietet nicht auf Anhieb ein Libretto, das man für eine Oper im klassischen Sinn erwarten würde. So viel Alltäglichkeit bei so viel – auch überhöhter – persönlicher Tragik. Aber die Musik macht’s – dafür sind Komponisten da.
Vermutlich haben wenige Musiker so nachdrücklich das Meer in Wasser, Wellen, Strömungen „komponiert“ wie Britten zumal in den zurecht berühmten Orchesterzwischenspielen der Oper, die allerdings auch viel von den Seelenqualen des Titelhelden reflektieren, der nichts sehnlicher wünscht, als in der Gemeinschaft akzeptiert zu werden. Dieser bitterbösen Phalanx von Kleinbürgern hat Britten in einigen Einzelfiguren und dem Chor hochdifferenzierten und hochdramatischen Ausdruck verliehen. Es ist ein wirklich spannendes Stück, das auch eine spannende Umsetzung verdiente…
Sie kam in diesem Fall zumindest aus dem Orchestergraben. Der Brite Graeme Jenkins zeigte nicht nur brillantes Fingerspitzengefühl für die emotionalen Wertigkeiten der Musik, sondern brachte auch die nötige Exaktheit, die bei einer so schwierigen Partitur (zumal in den Chorszenen) nicht immer leicht zu erreichen ist, peitschte Dramatik hoch und ließ Trauer fließen, ohne der Sentimentalität (die gelegentlich hinter Ecken hervorlugt) nachzugeben. Das hat ein großer Komponist zum rundesten aller Geburtstage verdient.
Peter Grimes selbst ist eine der berühmtesten und anspruchsvollsten Tenorpartien des modernen Repertoires, die in Wien für diese Inszenierung von Neil Shicoff kreiert (und dann bisher von Kurt Schreibmayer, Thomas Moser und von dem israelischen Tenor Gabriel Sadé – dem man nie wieder begegnet ist – nachgesungen) wurde. Für die Wiederaufnahme zum Geburtstag hatte man Ben Heppner engagiert, seinerseits bekannter Interpret der Rolle und auch Wagner-Tenor, denn solche Kraft ist für den Grimes von Nöten. Nun, Herbert Lippert hat lange auf seine große Chance an der Wiener Staatsoper gewartet, aber bis auf einige der Mozart-Tenorhelden zu Beginn der neunziger Jahre gab es noch keine wichtige Rolle für ihn im Haus. Nun kam die Chance (ein Lob der Direktion, nach Absage des Stars nicht hektisch einen neuen zu suchen, sondern im Ensemble herumzuschauen), und Lippert hat sie vollinhaltlich genützt.
Nie hatte man das Gefühl, er werde den dramatischen Ansprüchen nicht gerecht (wobei es sicher ein Vorteil ist, dass bei Verzweiflungsausbrüchen ja kein „Schönsingen“ gefragt ist), stets fügte er sich in die lyrische Kantilene, wo sie möglich ist, und immer war er hilflos-verzweifelnd (denn etwas anderes hat Britten für diesen bedauernswerten Mann nicht vorgesehen) präsent. Tatsächlich wirkt Lippert im Vergleich zu dem fast dämonisch-dunkel-problematischen Shicoff viel sympathischer, und die Szene mit dem Jungen – wo er ihn halb wegstößt, halb in die Arme schließt – wurde so wenig abstoßend gestaltet wie möglich. Ein Teil des verdienten Erfolgs des Abends geht auch an den Hauptdarsteller mit dem unglücklichen Blick.
Hausdebutant war – und Zeit war’s – der schottische Bariton Iain Paterson, der schon allerorten den Wotan singt, aber für Lepage in New York (und dann auch in München) ein geradezu herausragender Gunther in der „Götterdämmerung“ war – und das bei einer so undankbaren Rolle. Nun ist auch der brave, wackere Kapitän Balstrode, der so unerschütterlich an Grimes’ Seite steht (und ihn am Ende in den Tod schickt, um ihn zu erlösen), keine Superrolle. Eine weniger nachdrückliche Erscheinung, ein weniger kraftvoller Bariton als jener Patersons könnte da unter den anderen Nebenrollen untergehen. Wunsch an die Direktion: Bitte demnächst für ihn eine Partie, in der er ungehindert brillieren kann.
Die teils dankbare Rolle der Ellen Orford, auch sie an der Seite von Grimes als Gegengewicht zum Rest der bösen Welt, war nun mit Gun-Brit Barkmin (im Sommer in Salzburg eine nachdrückliche Guinevere in Birtwistles „Gawain“) wirklich schön besetzt. Eine liebe- und seelenvolle Frau mittleren Alters, die Grimes die Stange hält, ihn aber auch bekämpft, wenn sie sein Verhalten den Jungen gegenüber nicht billigt. Britten hat allerdings die Frauenstimmen nicht so nobel behandelt wie die Männer, die nie zu solch exzessiver Schrille hochgepeitscht werden wie die Damen. Das merkt man auch an „Auntie“ (die herausfordernd fesche Monika Bohinec) und ihren Nichten (Simina Ivan, als Einzige der Besetzung von der Premiere her dabei, und Hyuna Ko, neu, aus Korea und besonders hübsch) – die müssen sich die Kehlen gelegentlich verrenken. In der komischen Rolle der Mrs. Sedley bleibt Donna Ellen vergleichsweise blass.
Das Heer der bösen Dorfbewohner wird von Norbert Ernst mit geifernd schriller Stimme und eifernd hektischer Körpersprache angeführt, mit Wolfgang Bankl (er hat gleich die Anfangsszene) und Gabriel Bermúdez ist auch nicht gut Kirschen essen, Carlos Osuna wieselt als Hochwürden hinterher, Janusz Monarcha taucht gelegentlich auf. Und der Chor muss als mitwirkendes Kollektiv – gefordert wie nicht allzu oft – besonders lobend erwähnt werden.
Wenn es einen Musiker-Himmel gibt, hat Britten wohl herunter gesehen und sich gefreut.
Renate Wagner