Live aus dem Royal Opera House London im UFA Kristallpalast Dresden: “LA BOHÈME” MIT ANNA NETREBKO UND JOSEPH CALLEJA – 10.6.2015
Man pilgert immer wieder gern in Dresden zum UFA Kristallpalast, um eine neue Live-Übertragung aus dem Royal Opera House London zu sehen, denn enttäuscht worden ist man da noch nie. Etwas Wesentliches oder besonders Interessantes ist immer dabei.
Bei der Aufführung von „La Bohème“ im Royal Opera House war es vor allem Anna Netrebko, die die Mimi mit äußerster Hingabe sowohl gesungen, als auch gespielt hat. Da blieb kein Wunsch offen. Sie war einfach das junge, sehr hübsche, unschuldige, bescheidene Wesen am Rande der Gesellschaft, das in seiner tristen Einsamkeit und Zurückgezogenheit auf ein kleines bisschen Glück hofft und, schon von Krankheit gezeichnet, den einzigen Halt in aufrichtiger Liebe sucht.
Gesanglich und darstellerisch steigert sich Anna Netrebko immer noch weiter, wagt sich an die heikelsten Nuancen, die von anderen Sängerinnen gelegentlich “unterschlagen”, von ihr aber in allem bravourös gemeistert werden. Es ist immer wieder faszinierend, mit welcher Intensität sie sich in ihre Rollen vertieft. Der Mimi wurde sie in allen Facetten gerecht. Der Zoom der Live-Übertragung holt auch die kleinste mimische Regung ins Blickfeld des Betrachters, wobei sie nichts zu fürchten hat. Sie wirkte einfach perfekt und sang mühelos in allen Tonlagen und Phasen. Bei ihr verschmolzen Gesang, Erscheinung und Gestik zu einer untrennbaren Einheit, bei der sie ihre reiche Ausdrucksskala mit allen Nuancen und Facetten im Sinne dieser Bühnengestalt und vor allem glaubwürdiger Natürlichkeit einzusetzen wusste. Man fühlte mit ihr, denn sie berührte in jeder Phase.
Ihr zur Seite stand Joseph Calleja mit auffallend weicher, geschmeidiger, sehr klangvoller Stimme und emotional geprägter, realitätsnaher, liebevoller Darstellung des Rofolfo.
Sein Freund Marcello wurde von Lucas Meachem durchaus überzeugend, wenn auch, einschließlich Timbre etwas nüchterner und eher sachlich verkörpert. Jennifer Rowley war als Musetta das ganze Gegenteil von Mimi und Teil des ganz anderen Paares. Sie beeindruckte vor allem durch die Art ihrer Darstellung zwischen Leichtfertigkeit, Luxusbegehren, Koketterie, Launenhaftigkeit, gutem Kern im Inneren ihres Wesens und leidenschaftlicher Liebe zu Marcllo. So lebte denn auch der “Walzer der Musetta” bei ihr mehr von ihrer gekonnten Darstellung als vom Gesang, und ihr “Ave Maria” ging bei Mimis Ende fast im Trubel der allgemeinen “Bestürzung” auf der Bühne unter. Ihre wandlungsfähige Darstellung aber war aufregend, faszinierend und schließlich auch berührend.
Marco Vinco als Colline war offenbar der lokale “Held”, der für seine “Mantel-Arie” viel Beifall erhielt. Simone del Savio als Schaunard, Jeremy White als Benoit, Luke Price als Parpignol und Ryland Davies als trotteliger Staatsrat Alcindoro taten ihr Möglichstes, um die kleineren Rollen sinnvoll in den Gesamtcharakter der Inszenierung einzubringen.
Die “steinalte” Inszenierung von John Copley gehört schon zum “Inventar” des Opernhauses, ist aber ausgesprochen stimmig und hat nichts von ihrem “authentischen Rahmen”, den sie der Handlung bietet, und ihrer emotionalen Wirkung verloren. Sie wirkt noch immer sehr gegenwärtig und berührend. Copley hat die Personenregie inzwischen mit einigen mehr heiteren, mitunter fast übertrieben typisch menschliche Verhaltensweisen glossierenden Rand-Episoden dem jetzigen “Zug der Zeit” angepasst. Das Hinzufügen eines (fernöstlichen) Aktmodells bzw. Freundin Marcellos, an der er kein sonderliches Interesse zeigt, weil er an Musetta denkt, die Zeichnung des Staatsrates als vertrottelter Alter, der von Musetta nur ausgenutzt wird, ein edles Rassehündchen, das erst von Musetta „gehätschelt“, dann, wenn sie wieder ihrem Marcello zustrebt, ziemlich unsanft vom Kellner zum Staatsrat “weitergereicht” wird usw. stehen eigentlich im Widerspruch zur ernsten Handlung und „weichen“ die Oper „etwas auf“, aber letztendlich hat auch Giacomo Puccini in seiner Oper die Spannung aus starken Gegensätzen gezogen, dem Kontrast zwischen frostigem Künstlerleben im winterlichen Paris und aufkeimender Liebe, fröhlichem, unbekümmertem Weihnachten und Mimis Tod, der alle und alles verändert.
Die Kulissen mit wirkungsvoller Treppe und Podest (schon wegen der besseren Sichtverhältnisse) sind äußerst stimmig und wirken wie „handgemalt“. Die Kostüme, bei manchen Bühnengestalten auch etwas überzeichnet, entsprechen – unter Berücksichtigung des typisch englischen Geschmacks – in etwa der Zeit, in der die Oper spielt.
Am Ende war man so berührt wie Jennifer Rowley, die die (echten?) Tränen der Rührung auch beim Schlussapplaus vor dem Vorhang nicht verbergen konnte, so sehr stand sie noch unter dem Eindruck der Musik, die unter der mitreißenden musikalischen Leitung von Dan Ettinger, der die Musik genau erfasst hatte und lebensvoll umsetzte, vom perfekt und mit Anteilnahme spielenden Orchestra of the Royal Opera House und dem Royal Opera Chorus (Chorleiter: Renato Balsadonna) so intensiv gestaltet und berührend wiedergegeben wurde und niemand “kalt ließ”.
Man verließ das Kino nicht nur euphorisch wegen guter Sängerleistungen, sondern auch betroffen oder sogar erschüttert, selbst wenn man die Oper schon sehr oft auf der Bühne und/oder im Film gesehen hat, vor allem wegen der intensiven sängerischen und darstellerischen Gestaltung von Anna Netrebko und Joseph Caleja, aber auch der realitätsnahen lebensvollen Darstellung der Musetta.
Ingrid Gerk