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BERLIN/ Deutsche Oper: FAUST

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Berlin/Deutsche Oper: ein aufregender „FAUST“ von Charles Gounod, 30.06.2015

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Deutsche Oper Berlin: “Faust”. Masken im Walzertakt. Foto: Matthias Baus

An dieser neuen Faust-Inszenierung von Philipp Stölzl in der Deutschen Oper Berlin scheiden sich die Geister. Ungewöhnlicherweise gibt es im voll besetzten Haus auch nach dieser vierten Vorstellung lautstarke Buhs, und die gelten ausnahmslos der Regie.

Andererseits werden alle Solisten – insbesondere die großartige Krassimira Stoyanova in der Rolle der Marguerite – zurecht mit Beifall überschüttet. Bejubelt wird auch Dirigent Marco Armiliato, der auch das Orchester des Hauses singen lässt und in den Schlussszenen zum exzessiven Höhepunkt treibt, ohne die Sängerinnen und Sänger zuzudecken.

Wohlklang à la française ist angesagt, auch bei den von Thomas Richter einstudierten Chören. Das alles passt bestens zur Faust-Variante von Charles Gounod und dem Drehbuch seiner Librettisten Jules Paul Barbier und Michel Florentin Carré, haben sich doch beide weitgehend nach Carrés fantastischem Drama „Faust et Marguerite“ gerichtet.

Goethes mystisch-grüblerischer Faust war ihr Ding nicht, für sie stand die Lovestory im Mittelpunkt. Richtigerweise hieß die Oper bei uns früher „Margarete“, denn die ist hier zweifellos die Hauptperson. Der Titel „Faust“ zieht natürlich mehr.

Jedenfalls komponierte Gounod – ganz anders als Berlioz mit „Fausts Verdammnis“ – eine opéra lyrique, wunderbar romantisch mit eingestreuten Walzer- und Marschrhythmen. Wenn es im Schlussakt um Himmel und Hölle geht, wird’s jedoch hochdramatisch. Dort hat Gounod sein Können als Organist in die Waagschale geworfen. Insgesamt ist das ein sattes Stück Musik mit – ja – echt filmtauglichen Qualitäten.

Stölzl, selbst Filmemacher, hinterfragt diese „weichgespülte“ Faust-Variante und bebildert die alte Geschichte mit zeitgemäßem Realismus. Er tut das keineswegs schroff, setzt sich nicht selbst als Regie-Berserker in Szene. Eher unterläuft er die Story und fordert mit seiner Bildgebung von Anfang an zum Nachdenken auf.

Wer eher der harmlosen Romantik und lieb gewordenen Gewohnheiten anhängt, wird schon beim Vorspiel die Stirn runzeln, denn da sitzt eine stumme Marguerite bereits in dem Gefängnisraum, in dem sie am Schluss nach US-Art mit der Giftspritze hingerichtet wird. Zuvor läuft der Lebensfilm vor ihrem inneren Auge ab. Sie sieht sich als lustiges kleines Mädchen, dann als Rollschuh fahrender Teenager mit Luftballons. Die 99 (von Nena) waren ihr nie vergönnt.

Nun rollt Faust ins Zimmer, und der ist hier keineswegs der greise Forscher, der unbedingt wissen will, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Der sitzt nicht grübelnd am Schreibtisch, sondern – sehr real – im Krankenstuhl, hängt am Tropf und sehnt sich nur nach jungen Frauen und Zärtlichkeit. Sich den eigenen Giftcocktail zu mischen, gelingt seinen zittrigen Händen nicht mehr. Da wir aber im Opernhaus sind, singt der Tenor Teodor Ilincai dennoch kraftvoll, und das während der gesamten, auch intensiv gestalteten Partie.

Mit der perfiden tänzerischen Eleganz des Méphistophélès kann er darstellerisch nicht mithalten. Soll er wohl auch nicht. Wer kann schon dem Teufel das Wasser reichen? Einem wie Ildebrando D’Arcangelo – schwarzer brustfreier Anzug, schwarzer Zylinder – jedenfalls nicht. Sein kräftiger Bass wirkt jedoch rauer als früher, da grummelt es manchmal höllentief.

Verglichen mit ihm erscheint dieser Faust recht bieder, verliebt er sich doch sogleich in das bescheidene Gretchen. Das haust – „prekäre Lebensumstände“ einer Verkäuferin – in einem vergammelten Wohnwagen. Nach ihrer Kleidung zu urteilen, arbeitet sie vermutlich in einer feinen Konditorei. (Kostüme: Ursula Kudrna).

Warum Frau Kudrna den Studenten Siebel – die schmale junge Stephanie Lauricella (mit einem schönen lyrischen Sopran) – in ein schlabbriges Billig-Häschen-Kostüm gesteckt hat, bleibt ihr Geheimnis. Faust und Mephisto tragen beim späteren Lotterleben Paillettenanzüge in Schweinchenrosa und werden von Mädels in Schuluniformen umgarnt. Stölzl macht sich offenbar über manche Shows lustig.

Darüber hinaus tragen alle Chor-Sängerinnen und –Sänger von Anfang an Masken nach dem Wendehals-Motto: bloß nicht Gesicht zeigen, unerkannt mal für diese, mal für jene Partei ergreifen. Wenn sich die Maskierten schwungvoll beim lieblichen Walzer (eine Erkennungsmelodie) drehen, wirkt das gewollt makaber.

Noch stärker ist das beim Soldatenchor der Fall. Den singen kein heilen Helden im Siegestaumel. Als Krüppel kehren sie zurück, und manche Frauen warten vergeblich. Nur Marguerites Bruder Valentin ist unversehrt, bleibt es aber bekanntlich nicht. Voller Wut über die Verführung seiner Schwester attackiert er Faust, dem Mephisto die Hand führt.

Thomas Lehmann, ein temperamentvoller Valentin mit wohllautendem Bariton, gefällt in dieser Rolle. Wenn er sterbend seine Schwester verflucht, müssten sensible Zuhörer/Innen zusammenzucken. Den humoristischen Gegenpol setzt augenzwinkernd Ronnita Miller als männergeile Marthe, eine Rundliche mit einem herrlich runden Mezzo. Den Wagner (Brandner) singt angenehm Carlton Ford.

Bleibt festzuhalten, dass die Protagonisten Stölzls Ansatz verinnerlicht haben. Sie realisieren sein Konzept glaubwürdig und mit spürbarer Hingabe. Allen voran die fabelhafte Krassimira Stoyanova. Gesanglich und schauspielerisch durchlebt sie alle Facetten dieser Marguerite, die vom kurzen Glück in dem Verlassensein und nach dem Kindesmord den „Mühlen der Gerechtigkeit“ anheim fällt.

Stölzl hat ihr ein Double beigegeben. Bei der ersten Liebesszene mit Faust ist es eine junge Frau auf der Schaukel, später – im winterlichen Schneetreiben – eine weitere Schwangere, die schließlich das blutbeschmierte Baby kurz auf dem Arm trägt. Wohl ein Hinweis auf Marguerites Persönlichkeitsspaltung und ihren letztendlichen Wahnsinn. Kann solch eine Frau überhaupt schuldig gesprochen werden, scheint als Frage im Raum zu stehen.

Die Gesellschaft und das Gericht sagen „ja“. Sie wird auf der Liege angeschnallt, Maskierte setzen die Spritze, und die wirkt nicht sogleich! Ein harter Schluss. Darf eine solche Tötung thematisiert werden? – Gegenfrage: ist die Darstellung von grauslichen Mittelalterbräuchen (Hexenverbrennung usw.) eher zu goutieren? Immerhin landet die von allen Geächtete auch hier nicht in der Hölle. Nein, mit Triumphmusik wird sie für den Himmel gerettet. Alles in Ordnung, alles wie gehabt.

Eher nicht. Denn trotz all’ der schönen Melodien und Klangwogen ist Gounods „Faust“ (eine Koproduktion mit dem Aalto-Musiktheater / Theater und Philharmonie Essen GmbH und mit Unterstützung des Förderkreises der Deutschen Oper Berlin e. V.) eigentlich keine harmlos-erquickliche Feierabend-Unterhaltung, als die sie zumeist inszeniert und gerne erlebt wird.

Weitere Vorstellungen in dieser Saison am 2. und 5. Juli.

Ursula Wiegand

 

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