DER FLIEGENDE HOLLÄNDER
Premiere: 25. Juli 2012. Wiederaufnahme: 31. Juli 2015
„Nichts rätselhaft, aber auch nichts staubig“
1919 veröffentlichte der kritische Wagnerianer Ernst Bloch einen Aufsatz, der Geschichte gemacht hat. Anlässlich der – natürlich – umstrittenen Neuinszenierung des „Fliegenden Holländers“, den Jürgen Fehling an der Kroll-Oper unter der musikalischen Leitung Otto Klemperers herausbrachte, warf sich der Musikphilosoph für Wagner in die Breche. Er sprach hier von der Kolportage des 19. Jahrhunderts als „Bootsmannspfeife, an der der frische Wagner-Eindruck begann, an der nichts rätselhaft, aber auch nichts staubig ist“ – und er brachte Wagner mit dem Surrealismus zusammen, der Ende der 20er Jahre gerade mächtig en vogue war.
Die Stelle kommt einem in den Sinn, wenn man sich, nun schon im vierten Jahr, die Inszenierung Jan Philipp Glogers anschaut. Sie ist weder rätselhaft noch staubig, dafür noch ziemlich frisch; zudem ist die Bootsmannspfeife beim Steuermann Benjamin Bruns und Kapitän Daland, sozusagen, in besten Händen. Gloger skelettierte den Stoff bis auf den antikapitalistischen Rest, ohne dem „Gedicht“ (wie Wagner seine Oper und den Stoff genannt hat) Gewalt anzutun. Er verzichtet fast gänzlich auf alle Seefahrerromantik – und zitiert nur, mit zärtlicher Ironie, in der Nußschale des ersten Bildes, in die sich Daland und der Steuermann verkriechen, die einstige Matrosenromantik. Er entdeckt im verfluchten Holländer den Typus des reichen, in Wahrheit armen gehetzten Mannes, der zum Opfer des Wirtschaftssystems wurde, das er selbst immer wieder zu stabilisieren verflucht ist. Im abstrahierenden Bühnenraum Christoph Hetzers gibt es freilich noch Ströme: die rasenden Daten– und Zahlenströme einer Weltwirtschaft, deren kleinste Teile – in diesem Fall die Produktionsstätte, in der die „Mädels“ fleißig windmachende Ventilatoren produzieren – selbst dann funktionieren, wenn die „menschliche Katastrophe“ in einem tödlichen „Erlösungs“-Schluss eingetreten ist.
Derart wörtlich nimmt die Regie Wagners Codeworte, um sie, surreal und zugleich rational heruntergebrochen, theatralisch wirkungsvoll und spielfreudig – und gleichzeitig tableauhaft und sinnbildlich auf die Szene zu bringen. Fürs dramatische Ingenium spricht schon der grandiose Chorauftritt in doppeltem Forte: „Mit Gewitter und Sturm“ wirkt auch deshalb so gewaltig, fast wie eine Welle, weil der uniform gekleidete (und perückierte) Herrenchor sich langsam, aber zielsicher in einer geschlossenen, doch auch seltsam heiteren Gruppe an die Rampe schiebt. Gänsehautstimmung! Und der Chor der Bayreuther Festspiele kann unter Eberhard Friedrich wieder seine enorme Qualität demonstrieren. Jeder Mann in dieser Gruppe der grauen Broker ist ein auswechselbares Teilchen – so wie die Männer des Holländer, die immer noch die selben verschmutzten und angekokelten Kostüme von anno Tobak tragen, als sie noch in Geldgeschäften auf den Meeren der Weltwirtschaft unterwegs waren. Ist das nun „unrealistisch“? Wer“s glaubt, muss sich nur einmal die Banker anschauen, die tagtäglich über das Bayreuther Kopfsteinpflaster laufen… Zu schweigen von den Frauen, die ihre Art von Uniform tragen: vermutlich gehen auch sie alle zum selben Friseur.
Zu den dramatisch einleuchtenden Erfindungen, die mit bloßen Regieeinfällen nicht verwechselt werden dürfen, gehört – Stichwort: „Surrealismus“ – auch die Idee, Senta als Außenseiterin im Frauencorps zu zeigen, indem sie die seltsamste Kunst produziert, die, genau betrachtet, nicht weniger ist als ein Protest gegen die genormte Gesellschaft. Kein Wunder, dass ihre schrecklich schöne Art brut – eine rohe, mit schwarzer Farbe bemalte Skulptur irgendeines quasimenschlichen Wesens, das so etwas wie eine Wahnvorstellung des Holländers sein könnte – im Fest des dritten Akts sofort in eine Mülltüte gesteckt wird.
Ricarda Merbeth. Foto: Bayreuther Festspiele/ Jörg Schulze
Realität erhält Senta aber zuallererst durch ihre Interpretin. Ricarda Merbeth hat sich schnell eingesungen. Schon als Elisabeth hat sie ihre enormen lyrischen Qualitäten zeigen können; als Senta versinnbildlicht sie den Typus der romantischen Heroine, die in ihren letzten Treuebekundungen zu hochdramatischen Spitzen fähig ist. Zu den musikalischen Höhepunkten des Abends gehört auch das Duett, in dem sie mit Samuel Youn die Zeit still stehen lässt. Die Regie setzt – anders als andere Regisseure der Bayreuther Festspiele, die meditative Sequenzen durch Aktionismus brechen – auch in diesem Fall auf eine szenische Bewegung, die dem Gestus der Musik nicht widerspricht, doch auch nicht unoriginell ist: die beiden Helden, deren Beziehung durchaus eine „romantische“ „Liebes“-Beziehung ist (denn in der Begegnung mit Senta wird das verhärtete Gemüt des suizidal veranlagten Holländers radikal aufgebrochen), verharren zunächst bewegungslos auf ihren beiden kleinen Inseln, den Pappkartonbergen in Dalands Ventilatorenfabrik. Die Drehbühne sorgt für die harmonische Umkreisung – bis sich die Schatten Sentas und des Holländers und sie selbst sich endlich (umarmend) berühren. Die Emphase, die die Regie ihnen hier gönnt, mündet schließlich in einen „Liebestod“, den der Erlösungsengel Senta zusammen mit dem Holländer erleidet: Tod durch Aufritzen der Schlagader durch einen primitiven Holzscheit. Da braucht es kein rohes Flügelpaar mehr, das der Hausmeister längst zornig weggepfeffert hat.
Der Hausmeister heißt Erik, er gehört zu den vokalen Königen des Abends. Tomislav Mužek, er singt wie ein Gott. Wagner stellte sich vor, dass dieser Erik „stürmisch, heftig und düster“, also kein „sentimentaler Winsler“ sein dürfe. Mag sein, dass dem Komponisten dieser Erik nicht gefallen hätte, denn Mužek setzt allen Schmelz seines ins Lagrimoso tendierenden Edeltenors ein, um eine kräftige Charakterisierung dieser traurigen wie bemitleidenswerten Figur vorzunehmen, die zum Opfer von Sentas Sprunghaftigkeit wird (regelrecht böse: ihr überdeutliches Kopfnicken nach seiner nachvollziehbaren Frage „Leugnest du?“). Kann der Holländer, rein stimmlich betrachtet, mit dem empfindsamen Tenor konkurrieren? Er kann, denn Samuel Youn gibt ihm, ohne allzu viel dämonische Tiefe, den deutlichen Ton der schütteren Verzweiflung. Letzte Brillanz geht Youn freilich ab.
Samuel Youn. Foto: Bayreuther Festspiele/ Jörg Schulze
Aber man soll nicht meckern: dieser „Holländer“ ist bis in die letzte Partie gut besetzt, auch wenn man bedauern mag, dass Christa Mayers Mary eher unangenehm altjüngferlich klingt: ganz im Gegensatz zu ihrer szenischen Interpretation. Betritt der Holländer die Szene, entwirrt sie ihren Dutt und nimmt ihre Brille ab. Sooo attraktiv ist der fremde Mann denn doch nicht, aber man spürt, dass auch Mary in Untiefen zu fallen vermag, aus der sie kein Mann zu erlösen vermag. In diesen Momenten gerät das Symboldrama über die unheilvollen Gleichmachereien des kapitalistischen Waren- und Geldsystems zu einer spannenden Parabel über die Sehnsüchte des Menschen, jenseits des bloßen Funktionierens in Welten aufzubrechen, die vielleicht nur durch die Oper befriedigt werden können…
Vielleicht wäre ja der Übergang zu einer anderen, individuelleren Gesellschaft, von der auch Wagner träumte, mit Figuren wie dem Steuermann zu machen. Benjamin Bruns, so uniform er auch in seinem sachlich-schicken Herrenanzug aussieht, spielt und singt einen schlicht hinreißend starken und lyrisch vitalen Steuermann, dem die Regie alle Aufmerksamkeit widmet, indem sie diese Leitfigur als Geschäftsträger durch die Akte lotst: bis zum Schlussbild, dessen Plakativität zwar kaum überboten werden kann, das aber eine zwingende Logik besitzt. Da zählen dann der Steuermann und sein Chef die Scheinchen, die durch den Verkauf der Figurengruppe „Senta und der Holländer, gemeinsam sterbend“ in die Kasse gekommen sind. Es gab schon üblere Finali bei den jüngeren Bayreuther Festspielen… Benjamin Bruns aber ist ein derart sympathischer Steuermann, dass man dem Regisseur die Kritik am System nur deshalb abnimmt, weil wir begriffen, dass dieses System von durchaus „netten Burschen“ und ihren weiblichen Compagnons gemacht wird. Auch Daland ist, weil Kwangchul Youn ihn spielt (und überaus überzeugen singt: mit Deutlichkeit und schönem Ansatz), kein bad boy des Systems; dass man gierig aufs „Gold“ schaut, ist ja noch kein Abwertungsgrund, ja: es scheint, als habe Gloger in diesem Repräsentanten des Systems eher eine mild komische, ziemlich menschliche Type als einen Bluthund sehen wollen, der seine Tochter schier unmenschlich ums Gold verkauft. Alles andere wäre noch platter gewesen, als die Reduktion des Stoffs auf den Widerspruch zwischen dem superökonomischen System und dem Individualanspruch aufs Leben und die Liebe leicht anmuten könnte – wäre das nicht so viel Spielraum fürs Theaterspiel im finsteren, grauen Raum, dass man als mündiger Zuschauer durchaus seinen Spaß haben kann an den Bedingtheiten, denen Leute wie Daland und der Steuermann ausgesetzt sind, weil sie sie selbst, buchstäblich, am Laufen halten.
Das Orchester der Bayreuther Festspiele kümmert sich unter der Leitung Axel Kobers wenig um die Frage, wie strukturell die Partitur Richard Wagners nun angelegt ist. Der Dirigent kommt mit den Bedingungen des Grabens gut zurecht; zumindest aus der akustisch idealen 25. Reihe (Mitte) aus klingt das Orchester sehr gut, das heißt: wir hören einen gleichsam klassischen Wagner zwischen italienisch inspirierter, deutscher Spieloper und wilden frühem Wagnertum. Kober nimmt sich Zeit für die wichtigen Haltepunkte, ohne Brüche im Gewebe zu provozieren, er kappt dem Orchester die Haltetaue, wenn es leidenschaftlich wird und hat doch alles unter Kontrolle, was die Abmischung zwischen Bühne und Graben unangenehm beeinflussen könnte. Mit einem Wort: es macht einfach Spaß, diesem souveränen „Holländer“ zu folgen. Darin ist die musikalische Deutung der szenischen gleich: denn im Geschnür des sog. Konzepts merken wir immer wieder, dass hier lustvoll gespielt wird.
Starker Beifall, keine Einwände. Da traditionell über die Inszenierung nach den Aufführungen kaum gesprochen wird, muss er zuerst auf das musikalische Ensemble bezogen werden – aber die Dignität der Inszenierung lässt, bei allen scheinbaren „Regietheater“-Eindrücken, auch den Schluss zu, dass Glogers realistische und zugleich surrealistische Arbeit – zwischen der tiefen Schwärze des Beginns, der Fabrikhelligkeit des zweiten Akts und dem überraschenden „Erlösungs“-Schluss mit seiner plakativen Pointe – beim Publikum so angekommen ist wie der Holländer bei Senta.
Frank Piontek, 2.8. 2015