Fotos: Barbara Zeininger
WIEN / Burgtheater:
DER REVISOR von Nikolaj Gogol
Premiere: 4. September 2015
Berühmte Regisseure haben ihren Stil – oder, weniger euphemisch formuliert, ihre Masche. Wenn der hierzulande nun schon sehr heimische Lette Alvis Hermanis Oper inszeniert, kann er zwar auch einiges kaputt machen (nicht beim „Troubadour“, wohl aber bei „Gawain“), aber die Musik gibt ihm das Tempo vor. Wenn er Sprechtheater inszeniert, ist Überlänge sein Markenzeichen. 4 Stunden 40 Minuten für Nikolaj Gogols „Revisor“ – dafür muss einem schon etwas einfallen. Und keine Frage, an Einfällen mangelte es der Burgtheater-Inszenierung nicht. Vielleicht gelegentlich an Einsicht, wie weit man sich selbstverliebt im Theater „spielen“ kann, ohne Schaden anzurichten.
Es beginnt mit einer „Ouvertüre“. Dazu muss man sagen, dass die kleine russische Stadt der Zarenzeit, in der Gogols Stück von 1835 spielt, irgendwo im schäbigen sozialistischen Realismus gelandet ist, in einem Bühnenbild, das sich Hermanis zwar selbst entwarf, das aber fatal an Marthaler erinnert. Auf einer Drehbühne ist das Haus des Bürgermeisters zur kommunalen Kantine geworden, wo lebende Hühner herumstaksen. Man sieht dann auch noch – Drehung – die dahinter liegende Küche und, wieder Drehung, in aller Ausführlichkeit, den Klo-Bereich (wird benützt, keine Frage, Ehrensache heutzutage). Wenn Chlestakow, der Nicht-Revisor, nur bettelarmer Durchreisender, im Gasthaus gezeigt wird (Drehung), dann schlafen in zwei von drei Betten riesige Ratten (sprich: Herrschaften im Rattenkostüm). Tierisch. Bis zur Schlusspointe.
Zu Beginn also ist man in der Kantine. Hinter der Theke bereiten sich die Damen auf den Tag vor, ordnen das Geschirr, machen eine Art Essen. Hauptsache, sie klappern – mit Tellern, Gläsern und Besteck. Und das so gekonnt und rhythmisch, dass sie den Eindruck einer Schlagzeug-Combo erwecken. Zehn Minuten lang „Musik“ zu Beginn – als sie zu Ende war, klatschte das Publikum. Die „Ouvertüre“ klang gut, der Einstand hat gefallen.
Dann trippeln die Personen des Stücks herein, die lächerlichen Honoratioren des Städtchens, die unter den Fängen des Bürgermeisters über Gericht, Schule, Krankenhaus, Post etc. walten und da schon Gelegenheit hatten, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen. Die meisten wurden von Kostümgestalterin Jurjane Kristine in Körperbodies gesteckt, die sie lächerlich dick machen: Die Anzüge spannen über der leiblichen Fülle. Fett sind sie geworden an ihren Pfründen, sie haben nur vergessen, ihr Outfit weiter machen zu lassen…
Darüber hinaus sind die unter den Figuren steckenden Schauspieler geradezu grotesk unkenntlich gemacht, da haben die Maskenbildner wirklich satirisch gewerkt. Man muss zweimal, dreimal hinsehen, um wirklich zu glauben, dass der korpulente Glatzkopf, der da dahintänzelt, Michael Maertens als Bürgermeister ist. (Wenigstens hat er seinen unverkennbar mauligen Ton nicht abgelegt.) Bei den anderen ist es vielfach genau so: Die Stimme identifiziert die Darsteller eher als ihre optische Erscheinung. Ein Panoptikum.
Immerhin, diese lächerliche Schar von wohl saturierten Bürgern, die allen Grund hat, sich vor einem Revisor zu fürchten, wirkt am Anfang der Inszenierung sehr überzeugend (wie sie es im Schlussbild wieder tun wird). Gogol schrieb eine Satire auf die alltägliche Korruption im Zarenreich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, aber die schreckliche Alltäglichkeit der Geschichte wirkt gar nicht überholt. Jeder Besuch eines Mannes, der Geschäftsgebaren untersucht, kann heute gut und gern ähnliche Ängste hervorrufen (wenn es nicht gar der Finanzbeamte ist). Das Stück funktioniert trotz der schon von Gogol eingebauten Übersteigerung – wenn man Figuren und Emotionen glauben kann.
Alvis Hermanis überzeichnet Gogol noch weiter, im Grunde von Anfang an, wenn Maertens als Bürgermeister sich in Slapstick-Drehungen wendet und immer wieder zu Boden fällt. Die Komik wird heraus gezwungen, die realen Ängste in den Possencharakter übergeführt, so dass über kurz oder lang Stillosigkeit das Ergebnis ist (so sorgfältig die Stilisierung der Darstellung auch gearbeitet sein mag).
In der Folge zuerst der Auftritt von Ossip, Chlestakows Diener (hier im Programmheft als sein „Begleiter“ bezeichnet, weil einen Diener kann sich dieser Mann sicher nicht leisten). Die schäbig-speckige Groteskfigur mit Kugelbauch stellt sich als so verkatert ein, dass er in den Nebenbetten die schon erwähnten Ratten sieht… (wobei man nicht bezweifeln will, dass sie in diesem Gasthaus zuhause sind: Nur vielleicht nicht ganz so groß.)
Und dann Chlestakow. In einer Welt der Runden bis Fetten ist er der Klapperdürre (Fabian Krüger muss sich wohl viele Kilo heruntergehungert haben). Auch eine Elendsfigur in Jeans und Ruderleiberl – ihn tatsächlich für einen Beamten aus Petersburg zu halten, scheint ausgeschlossen, aber Gogol begründet es ja am Ende: Wie sie alle so verblendet sein konnten? Die Erklärung heißt: die Angst, die Panik…
Wer ist Chlestakow? Nun, in dieser Inszenierung sicher nicht, wie bei Gogol, der abgewrackte Beamte aus der Hauptstadt. Hier nur ein geradezu komisch-hungriger Kümmerling (er könnte glatt von Goldoni sein, wenn er so jammert), der die Fähigkeit hat, sich selbst in seine Illusionen hineinzusteigern. Wenn er den gläubigen Bürgern Reden über seine eigenen Leistungen und seine Bedeutung hält, glaubt er sie fast selbst: ein Somnambuler, schwelgend in der eigenen Suada. Noch berechnend, wenn er in einer quälend endlosen Szene (hier am Klo spielend) alle um ihr Geld erleichtert. Selbst mitgerissen, wenn er am Küchentisch abwechselnd Frau und Tochter des Bürgermeisters verführt.
Fabian Krüger, Oliver Stokowski
Hat Hermanis schon in der Kloszene jede geschmacklose Slapstick-Pointe heruntergelassener Hosen ausgewalzt, so rasen die „Liebenden“ in der Küche dann köpflings in Mistkübeln, und man fragt sich nur noch, worauf der Regisseur eigentlich hinaus will. In diesem Stadium der Inszenierung, die irrational und willkürlich immer toller wird, ist das nicht mehr auszumachen.
Der Abend findet sich wieder im letzten Bild, Chlestakow ist mit Ossip und mit dem erbeuteten Geld abgepascht, nicht ohne Rückkehr und Ehe mit der Bürgermeisterstochter zu versprechen. Diese Hochzeit wird ohne Bräutigam in seliger Selbsttäuschung voraus gefeiert, und da inszeniert Hermanis den bürgerlichen Traum vom sozialen Aufstieg (wobei man gar nicht abenteuerlich genug den Glanz der Zukunft beschwören kann) zu leiser Musik wirklich brillant. Sie wollen’s für möglich halten, das „nach St. Petersburg!“. Und die Gesellschaft macht ihre Buckerln, wie sie es angesichts der Mächtigeren immer tut – damals wie heute.
Das Ende, wenn ein Brief beweist, dass sie alle betrogen wurden und sie es dann selbst nicht mehr verstehen, wie es dazu kommen konnte, hat der Bürgermeister seinen berühmten Monolog. Oft wird er in Verzweiflung hinaus geschrieen, auch in Richtung Publikum – Michael Maertens macht ihn leise, ganz leise. Die Tochter hat schon vorher begonnen, weinend die Hochzeitstorte in sich hinein zu stopfen. Die anderen folgen, denn wenn was zu essen da ist, isst man auch. Ganz klar wird, wie schnell diese Leutchen die Erschütterung hinter sich lassen und zur Tagesordnung übergehen.
Zumal ihnen Hermanis – und das ist doch eine fundamentale Veränderung – den Gogol-Schluß erspart. Der echte Revisor wird nicht angekündigt, steht nicht vor der Tür. Statt dessen stapft ein – Riesenhahn herein (und darf sich am Ende zusammen mit den Riesenratten auch verbeugen, die echten Hühner dürfen das nicht). Da lachen ja die Hühner!?!
Spezifisches Kennzeichen der Inszenierung ist ihre Länge. Hermanis walzt das Geschehen mit einer Detailfreudigkeit aus, deren stellenweise Witzigkeit den Ermüdungs- und Einförmigkeitsfaktor nicht aufhebt. Pointen werden wieder und wieder gemacht, man hat es doch längst begriffen. Vieles wird, weil so gnadenlos lähmend zelebriert, geradezu quälend wie die Bestechungsszene am Klo. Dabei wurde gar nicht so viel gelacht, wie ein dermaßen auf billige Effekte gebauter Abend vom Publikum wohl erwartet hat. Die Premierenbesucher lassen sich ja vielleicht noch sekkieren, sie wissen, was man von ihnen erwartet. Die „normalen“ Zuschauer mögen normaler reagieren und beschließen, dass man sich mit Hilfe von (zwei) Pausen dem ewig Gleichen entziehen kann.
Dass das „Theater des Jahres“ noch immer über Glanzbesetzungen verfügt, wenn es will, versteht sich, wenn man auch nicht jede Besetzung einsieht. Was bringt dieser törichte Witzfiguren-Bürgermeister einem Schauspieler wie Michael Maertens, zumal ihn nur eindimensionale Dümmlichkeit treiben darf? Warum besetzt man ein junges Mädchen mit Dörte Lyssewski, die vermutlich so alt ist wie ihre Bühnenmutter und nichts weiter darf, als mit aufgerissenen Augen mit Klein-Mädchen-Stimme piepsen? Was findet ein Schauspieler von der Potenz eines Oliver Stokowski an dem Ossip, der einmal auf einer elektrischen Gitarre zupfen darf und im übrigen kaum präsent ist?
Michael Maertens, Dörte Lyssewski, Maria Happel
Immerhin, der spindeldürre Fabian Krüger (der sich auch exzessiv in der Unterhose ausstellen muss – täte eine Frau Ähnliches, würden die Emanzen knurern) ist ein irisierender Chlestakow, nicht recht von dieser Welt, wie gesagt, kein spekulierender kleiner Gauner, sondern ein Traumtänzer im vollsten Wortsinn.
Und die eitle, lüsterne Bürgermeistersgattin scheint für die Fähigkeiten der Maria Happel wie geschrieben, für ihr grenzenloses Repertoire an komischen Zwischentönen, aber auch für die Gestaltungskraft, bei aller Parodie zu zeigen, wie die echte Figur aussieht, die sie meint. Sie ist zweifellos das Glanzstück des Abends.
Die anderen sind Ensemble im guten Sinn. Meist so versteckt hinter ihren optischen Veränderungen, dass man zur Identifizierung am besten gut zuhört. Dann kennt man sie, den Johann Adam Oest und den Falk Rockstroh, Martin Reinke, Dietmar König und – ihn aber am wenigsten – Franz J. Csencsits (er wirkt wie ein Menschenaffe im Anzug). Brigitta Furgler kann man stets durch ihren Baß identifizieren, und Hermann Scheidleder und Dirk Nocker als Bobtschinkij und Dobtschinskij sind erkennbar noch das Komikerpaar in der langsam schleichenden Klamotte.
Und doch hat der Abend Niveau, denn da ist ein Konzept und das ausgefeilte Handwerk, dieses umzusetzen. Ob die Freude daran, was man „kann“, für einen Theaterabend ausreicht, der letztlich so mühsam und stellenweise langweilig ausgefallen ist, sei dahingestellt. Es gab freundlichen Beifall, aber er war weder enthusiastisch noch sonderlich lang.
Renate Wagner