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WIEN / Theater an der Wien: DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK

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Fotos © Herwig Prammer

WIEN / Theater an der Wien:
Saisoneröffnung:
Suite L’HISTOIRE DU SOLDAT von Igor Strawinski
DAS TAGEBUCH DER ANNE FRANK von Grigori Frid
10. September 2015

Es waren eineinhalb intensive Stunden, die das Theater an der Wien als Saisoneröffnung bot, wobei das Haus wohl gefüllt, aber nicht ausverkauft war. Der 100. Geburtstag des russischen Komponisten Grigori Frid (er kam am 22. September 1915 zur Welt und starb 97 Jahre später an seinem Geburtstag 2012) war wohl der Anlass, seine Monolog-Oper (verkürzt: Mono-Oper) „Das Tagebuch der Anne Frank“ für einen Abend auf den Spielplan zu setzen – wenn es nicht ohnedies um das Werk selbst ging. Es war, wenn man sich nicht irrt, Ioan Holender, der diese Oper im Mai 1998 im Parlament (mit Anat Efraty) spielen ließ.

Anne Frank ist für viele das Gesicht und die Stimme der Opfer des Holocaust, die ergreifende Geschichte eines jüdischen Teenagers, vielleicht ein wenig klüger, wacher und heller beobachtend und urteilend als ihre Jungmädchen-Zeitgenossinnen, ein Mädchen, das noch voll Lebensfreude in die Zukunft sah, als sie 13jährig ein Tagebuch erhielt und mit klugen, anfangs auch noch heiteren, später philosophischen Reflexionen füllte. Diese Anne Frank musste aber wenig später mit ihrer Familie in ein Hinterhaus in Amsterdam vor den Nazis untertauchen. Sie schrieb in dieses Tagebuch bis wenige Tage, bevor sie deportiert wurde, und starb 1945 im KZ Bergen Belsen.

Von Grigori Frid auf eine russische Übersetzung komponiert, wird das „Tagebuch“ hierzulande selbstverständlich in der deutschen Übersetzung gespielt, wobei die wunderbare Verständlichkeit der ersten Passage sehr schnell und ziemlich total durch größere Lautstärke der Musik und Schnelligkeit des Gesungnen in die Unverständlichkeit abdriftet – vielleicht bald kein Problem mehr, wenn jeder mit seinem App die Texte mitliest, heute aber doch noch schwierig, weil Annes Stimmungen, von Fröhlichkeit bis zu Ängsten, ja in Frids Musik (der eine lockere Zwölftonreihe keinesfalls zur Qual der Zuhörer einsetzt) sehr eindrucksvoll transportiert wird – wovon man mehr hat, wenn man weiß, was gesungen wird.

Was Frid, selbst kein Jude, aus mehr oder minder verständlichen Gründen ausklammerte, als er die Oper zuerst 1969 in einer antisemitischen Sowjetunion schrieb, war die schlichte Tatsache, dass hier ein jüdisches Problem behandelt wird. Daran änderte auch die noch kammermusikalischere Zweitfassung von 1999 nichts, die jetzt im Theater an der Wien gespielt wurde.

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Aber da griff schon die Inszenierung von Reto Nickler ein, und darum handelte es sich tatsächlich, selbst wenn die Hauptdarstellerin immer wieder in ihren Notenauszug blickte. Denn Juliane Banse – stimmlich anfangs wundervoll, kindlich, aber nicht kindisch, mit leichtem, schönen Ton, später dann durch die Anstrengung (es ist ihr gesanglich einiges auferlegt) bald rauchig umflort – steht nicht nur mit ihrem eindrucksvollen Gesicht im schwarzen Gewand herum. Sie ist damit beschäftigt, an einem Schreibtisch für einen Projektor, der das Geschehen auf die Rückwand wirft, nicht nur immer wieder Bilder von Anne Frank und ihrer Familie zu zeigen, sondern auch Texte zu schreiben – und zuletzt ihr tragisches Schicksal über jenem schwebenden Ton niederzuschreiben, den Frid als geradezu verklärendes Finale über das Ganze legt.

Der eindrucksvollen Stunde ging eine halbe Stunde lang die Suite „L’histoire du soldat“ von Igor Strawinski voraus, die dieser 1918 aus seinem im Jahr davor entstandenen kleinen Bühnenwerk „destillierte“ – ein amüsantes, aber auch durchaus anspruchsvoll anzuhörendes musikalisches Kunststück ironisch „verbogener“ Töne, das in einem herrlichen Trommelfurioso endet.

Leo Hussain am Pult der Wiener Virtuosen durfte hier mit den Musikern zum Selbstzweck brillieren, während die „Anne Frank“ das klein besetzte Orchester dann ganz im Dienst des ergreifenden Werks sah.

Renate Wagner

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