MYSTISCH UND BEGEISTERND
Zeitgenossen hatten eine unterschiedliche Einschätzung von Beethovens neunter Sinfonie. Die einen rühmten den unvergleichlichen Ausdrucksreichtum dieses Werkes, die anderen bemängelten dessen kantatenhaften Charakter, der die Form der Sinfonie zerstören würde. Der stürmische Dirigent des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart des SWR, Stephane Deneve, betonte gleich beim ersten Satz Allegro ma non troppo den ungestüm-atemlosen Charakter dieser Komposition, dessen leiser Beginn schnell aus dem Chaos des Nichts ins Licht führte. Aus den Dreiklangstönen der Grundtonart formte sich das gebieterisch gezackt niederstürzende Hauptthema. Es wurde noch einmal von der nebelhaften Öde des Anfangs verschluckt und kehrte dann mit neuer Energie zurück. Auch der vielgestaltige Komplex des Seitenthemas wurde von Stephane Deneve nicht vernachlässigt. Er sammelte seinen leidenschaftlichen Trotz in ein kurzes und verbissenes Motiv. Was stellenweise überraschte, war die ungeheure Eile dieser Interpretation, da gab es kaum ein Innehalten. Aber Deneve machte diesen Mangel durch gewaltige dynamische Steigerungen und wirbelnde Paukeneinsätze wett, die Ludwig van Beethoven als einen robusten Sinfoniker und meisterhaften Kontrapunktiker zeigten. In einer ungewöhnlich ausgeweiteten Exposition bewies sich der Reichtum des thematischen Materials, dessen Durchführung in zahlreichen Abwandlungen aufstrahlte. Der Kampf zwischen Hell und Dunkel und das zwingend Bildhafte prägten sich beim Zuhörer geradezu magisch ein. Schmerzliches Leid und tröstliche Freude hätte Stephane Deneve vielleicht bei der einen oder anderen Stelle noch einprägsamer herausarbeiten können. Die Scherzoform des zweiten Satzes betonte Deneve ebenfalls sehr aufbrausend. Hart und jäh setzte plötzlich das eintaktige lapidare Kopfmotiv ein, das nach seiner viermaligen Wiederholung engste Beziehungen zum Hauptthema des vorherigen Satzes offenbarte. Dann hetzte das eigentliche Scherzothema los. Leise und fast schon gespenstisch jagte es in knisterndem Fugato daher, schwoll drohend an und hielt hartnäckig an seinem unerbittlichen Rhythmus fest, auch wenn in den Holzbläsern ein fast schon dämonisch lustiger neuer Gedanke auftauchte. Flüchtig schimmerten versöhnliche Episoden auf, blendeten sich in das unheimliche Treiben ein. Und der trio-ähnliche Mittelteil, dessen Taktwechsel das rhythmisch entschärfte, verkürzt aneinandergekoppelte Kopfmotiv brüsk signalisierte, kam innerlich nicht zur Ruhe trotz der pastoral anmutenden Melodie. Die Dur-Melodie weckte bei dieser Wiedergabe deutliche Assoziationen zum berühmten „Freudenthema“ des Schlusssatzes. Gleichsam erdenfern blühten dann im dritten Satz, Adagio molto e cantabile, in den Violinen der Trost und Ruhe spendende Gesang auf. In sanfter Entrückung schwang er sich überirdisch empor, mündete in eine neue Weise voll Ergebenheit. Dann steigerten beide Melodien in Variationen ihre wunderbare Intensität – und auch die Holzbläser gefielen mit samtweicher Intonation. Mit einem gellenden Ausbruch, der aber durchaus auch noch gewaltiger hätte sein können, begann daraufhin das Finale. Und mit einem wuchtigen Rezitativ antworteten die Streicher, wurden von einem neuen Ausbruch übertönt. Wie Fetzen der Erinnerung erschienen die angedeuteten Hauptthemen der vorangegangenen Sätze. Drängender, leidenschaftlicher schob sich das Rezitativ dazwischen, bis Oboen und Fagotte zart auf die Melodie der Freudenhymne anspielten. In den tiefen Streichern breitete sie sich schwungvoll aus.
Markus Eiche (Bass) ließ den Ruf „O Freunde, nicht diese Töne!“ beschwichtigend anstimmen. Und die übrigen Solisten Sabina Cvilak (Sopran), Daniela Sindram (Alt) und Brenden Gunnell (Tenor) intonierten Schillers Worte der Freudenhymne fein timbriert und mit tiefem seelischem Ausdruck, der sich immer weiter steigerte. In leidenschaftlicher Begeisterung schwoll der Jubel zum überwältigenden Höhepunkt an: „Und der Cherub steht vor Gott“. Gächinger Kantorei Stuttgart, Philharmonia Chor Stuttgart sowie die Stuttgarter Kantorei (Einstudierung: Johannes Knecht) agierten mit bemerkenswerter Durchsichtigkeit und klanglicher Transparenz, die sich immer mehr verdichtete. Mit großer Trommel, Triangel und Becken erschien die marschartige Episode „Froh, wie seine Sonnen fliegen“ als Nachhall der Türkenkriege. Das majestätische „Seid umschlungen, Millionen“ gewann große harmonische Vielgestaltigkeit, die Stephane Deneve nie aus den Augen verlor. Völlig überirdisch wirkte ferner die Passage „über Sternen muss er wohnen“. Als grandiose Doppelfuge arbeitete Stephane Deneve mit dem elektrisierenden Ensemble und Orchester die Themen der Freudenhymne und des „Seid umschlungen“ heraus. „Alle Menschen werden Brüder“ gipfelte in orgiastischen Ausbrüchen, die beim Publikum frenetischen Schlussjubel hervorriefen. Ein würdiger Ausklang dieses Musikfests mit dem Motto „Freundschaft“, das gleich praktisch umgesetzt wurde, denn es waren auch Flüchtlinge im Publikum anwesend. Umrahmt wurde diese Veranstaltung in Anwesenheit von Ministerpräsident Winfried Kretschmann vom Thema „Wiedervereinigung“ in Deutschland 1989 bis heute.