Württembergische Philharmonie Reutlingen im Kronenzentrum Bietigheim-Bissingen
WUCHT UND MONUMENTALITÄT
Beachtliches Konzert der Württembergischen Philharmonie Reutlingen am 20. Oktober 2015 im Kronenzentrum/BIETIGHEIM-BISSINGEN
Melvyn Tan. Foto: Konzertdirektion Württembergische Philharmonie Reutlingen
Ganze Arbeit leistete der außergewöhnliche schwedische Dirigent Ola Rudner mit der glänzend disponierten Württembergischen Philharmonie Reutlingen. Gleich zu Beginn interpretierte er Ludwig Spohrs Ouvertüre zu „Jessonda“ op. 63. Die Erinnerungsmotive in der durchkomponierten Form prägten sich im Sinne Richard Wagners hier stark ein. Ola Rudner lotete die Tiefen der Partitur mit dem Orchester eindrucksvoll aus. Jessonda, die junge Witwe eines indischen Rajas, soll ihrem Mann in einer rituellen Verbrennung in den Tod folgen – soweit die recht trostlose Handlung. Streicher-Pizzicati und ein ausdrucksvolles Horn-Thema beherrschten die harmonische Landschaft, die weit in die Zukunft wies. Militärische Bläserklänge unterstrichen die bedrohliche Stimmung, die sich dynamisch immer weiter zuspitzte. Der triumphale Es-Dur-Schluss deutete den guten Ausgang dieser Oper an, dessen Motive die verzweifelte Arie Jessondas aufgriffen, die auch an ihre Jugendliebe General Tristan dachte. Im Anschluss interpretierte der in Singapur geborene Pianist Melvyn Tan Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 2 in B-Dur op. 19 mit zahlreichen Rubato-Akzenten und eigenwilligen Tempi, an die man sich zuweilen erst gewöhnen musste. Aber es gelang ihm, einen großen Spannungsbogen zu erzeugen. Die Mozartnähe mit den Virtuosen-Effekten im Kopfsatz wurden überzeugend herausgearbeitet. Träumerische Verspieltheit kennzeichnete dann das Adagio, während das stürmische Schluss-Rondo atemlos daherkam. Mit dem Kuckucksruf wurde ein lausbübischer Spaß getrieben. Der sinfonische Charakter dieses Klavierkonzerts wurde aber von Ola Rudner und dem Pianisten Melvyn Tan sehr gut herausgearbeitet. Auch die lyrischen Passagen und kantablen Seitenthemen vernachlässigte Tan nicht. Dies galt wiederum für die widerspenstigen Sechnzehntelfigurationen. Der Wechsel von D-Dur nach Es-Dur wirkte bei dieser Wiedergabe ausgesprochen elegant. Thematische Linien kamen plastisch zum Vorschein. Und die Themenfragmente der Coda mit ihrem leise verklingenden Charakter und dem Quartsextakkord des Orchesters gelangen Ola Rudner und Melvyn Tan überzeugend.
Als Zugabe interpretierte Melvyn Tan noch eine Etüde von Frederic Chopin, deren bewegender Mittelteil dem Publikum unter die Haut ging. Zum Abschluss dann begeisterte die Württembergische Philharmonie Reutlingen mit ihrer exzellenten Wiedergabe von Peter Tschaikowskys Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 74 „Pathetique“. Dass dieses Werk Summe und Bekenntnis Tschaikowskys ist, machte Ola Rudner mit dem Orchester ausgezeichnet deutlich. Ehrlich und intim erklang diese wahrhaft erschütternde Musik. Düster und suchend begann der leidenschaftliche erste Satz mit der Klage des Fagotts, aus der sich das erregte, drängende erste Thema des Allegro non troppo bildete. Liebe und Verzicht sprach aus diesen wilden orchestralen Ausbrüchen. Trost und Qual glühten verzehrend in diesem Gesang auf. In der Durchführung setzte sich das erste Thema durch, das sich zügellos und verbissen aufbäumte. Energie zwang die Melodien unmittelbar nach oben. Und die Reprise enthüllte hier nochmals den Charakter eines Unglücklichen zwischen Fluch und Seligkeit. Der Charakterisierungsreichtum im Orchester war wirklich bemerkenswert. Im gedämpften Stimmengewirr suchte der Musiker daraufhin Vergessen und schrieb mit dem Allegro con grazia gleichsam die Idylle des Luxus. Mit seinem Fünfer-Rhythmus im Sinne von Mussorgski, Strawinsky und Bartok wirkte dieser zweite Satz keineswegs so unbeschwert, wie es zunächst den Anschein hatte. Ola Rudner gelang es, die Zwiespältigkeit der Partitur offenzulegen. Dies zeigte sich insbesondere im Kopfsatz: Die Coda des ersten Satzes erschien als milder Posaunen-Choral. Geheimnisvoll-wirbelnd kam der dritte Satz mit seinen gewaltigen Staccato-Attacken daher. Der Ostinato-Rhythmus der Bässe bohrte sich hier ins Gehör. Die Oboe spielte keck das elektrisierende Marschthema an, das sich aus der huschenden Betriebsamkeit immer bestimmter und drohender heraushob, alle Widerstände niederrannte und dank seiner überaus schmissigen Verve letzendlich effektvoll triumphieren konnte. Ergreifend war der Klagegesang eines vom Tode Gezeichneten, der dem Leben nie gewachsen war, im Finale. Schmerzlicher Rückblick und Abschied zugleich war dieses leidenschaftliche Adagio lamentoso. Symbolhafte Beziehungen zum ersten Satz waren bei Rudners Wiedergabe unverkennbar. Die Tonfolgen der beiden Hauptthemen sanken dabei nach einem letzten Aufbäumen in das Dunkel der Verzweiflung. Der herbe Entsagungsschmerz wurde vor allem in den Streichern hervorragend getroffen. Als Zugabe war noch ein mit zündendem Feuer musizierter Ungarischer Tanz von Johannes Brahms zu hören.
Alexander Walther