Frankfurt: “IWAN SUSSANIN” – 25.10.2015 – Vertraut trotz Erstbegegnung
Chorszene (Insz.Harry Kupfer). Foto: Barbara Aumüller
Wenn man nie zuvor bewusst einen Ton aus dieser Oper von Michail Iwanowitsch Glinka (1804 – 1857) gehört und auch die Geschichte nicht gekannt hat – was lässt sich wohl daraus schließen, dass einem diese Oper bei der ersten Begegnung so vertraut erscheint, als hätte man immer schon mit ihr gelebt? Gewiss nicht, weil der russische Komponist etwa aus bekannten Werken abgeschrieben oder gängige Klischees bedient hat. Für mich gibt es nur die eine Antwort: Stück und Aufführung sind einfach so gut, dass sich das Werk von selbst versteht und einprägt.
Einer der Gründe, warum ich zu dieser Premiere nach Frankfurt gefahren bin, war das Engagement eines Regisseurs der klassischen Moderne: des nunmehr 80-jährigen Harry Kupfer, der ja auch mit dem Salzburger “Rosenkavalier” eben erst wieder bewiesen hat, dass er voll “da” ist. Letzte Saison hat man in Frankfurt Prokofiews “Spieler” in seiner Regie hoch gepriesen. Ich zögere nicht, nun auch diese Glinka-Interpretation als ein Ereignis zu bezeichnen. Natürlich auch deshalb, weil Inszenierung und musikalische Wiedergabe von gleich hoher Qualität sind. Das “Opernhaus des Jahres” unter seinem vortrefflichen Intendanten Bernd Loebe hat sich wieder einmal um die Ausgrabung einer wertvollen Rarität verdient gemacht.
Dass es inmitten des Schlussjubels für das gesamte Ensemble dennoch für den Regisseur einige Buh-Rufe gab, hat sowohl einen dummen wie auch einen erfreulichen Grund. Doch gemach – alles der Reihe nach.
Glinka, noch vor Wagner und Verdi geboren und in jenem Jahr gestorben, in dem der deutsche Meister intensiv am “Tristan” arbeitete, nachdem der Italiener ein paar Jahre zuvor seine Erfolgs-Trias “Rigoletto”, “Trovatore” und “Traviata” der Welt geschenkt hatte, während in Frankreich Berlioz seine “Troyens” herausbrachte. “Iwan Sussanin” wurde 1836 (also drei Jahre, ehe Verdi seine allererste Oper schrieb) unter dem ihm aus politischen Gründen nahegelegten Titel “Ein Leben für den Zaren” in St. Petersburg uraufgeführt. Das Werk gänzlich unpolitisch zu bringen, scheint ja kaum möglich. Obwohl das Frankfurter Regie-Team, wie im Programmheft ausführlich dokumentiert, sehr bemüht war, das Gleichnishafte dieser Story hervorzukehren, blieb die Wirkung der politischen Brisanz nicht aus.
Iwan Sussanin, ein reicher russischer Bauer aus der Gegend von Kostroma an der Wolga, der durch Irreführung der feindlichen Armee seinem Land zu einem militärischen Sieg verhalf – um den Preis seines eigenen Lebens, hat wirklich gelebt. Um die Wende vom 16. Zum 17. Jahrhundert. Als die Polen ihr Nachbarland bekriegten und einem Partisanentrupp nachstellten, um den Zarensohn zu töten, der in dieser Gegend versteckt wurde, nahmen sie Sussanin fest, um ihn zum Verrat dieses Verstecks zu zwingen. Er hatte aber zuvor schnell noch seinen Ziehsohn Wanja ausgeschickt, um seine Leute zu warnen. Sussanin aber geleitete die Eindringlinge auf Abwege, wo sie im Schneesturm in einem versumpften Wald allesamt starben, nachdem sie ihn grausamt getötet hatten.
John Tomlinson als Sussanin mit Katharina Magiera als Wanja, seinem tapferen Ziehsohn (c. Barbara Aumüller)
Im Programmheft kann man – mit einigem Amüsement – nachlesen, wie die russischen Machthaber im Lauf der Jahrhunderte die Geschichte dieses Helden, dem es nicht um persönliche Macht ging, nur um die gute Sache, für ihre jeweiligen politischen Zwecke instrumentalisiert haben. Sogar Stalin nahm ihn sozusagen in Besitz. “Tod fürs Vaterland” – das war seit eh und je in allen Ländern und Sprachen ein wirkungsvolles Motiv und ein Vorwand, um Kriege zu rechtfertigen. Harry Kupfer und der Dramaturg Norbert Abels haben für Frankfurt eine Fassung der Oper erstellt, in der die Handlung in die Zeit des 2. Weltkriegs verlegt wurde. Die “Feinde” sind in diesem Fall die Deutschen, die ja bereits Polen eingenommen hatten. Während die Oper in Originalsprache aufgeführt wird, dürfen diese deutschen Soldaten sogar deutsch singen! Das war natürlich eine Herausforderung für jene Sektion streitbarer Premierenbesucher, die darin eine politische Verhetzung sehen. Und das ausgerechnet bei Harry Kupfer, einem der menschlichsten Regisseure, der zwischen Ost und West – jenseits von Gut und Böse – ein paar Jahrzehnte lang, sowie auch mit dieser Produktion, großes, allgemeingültiges Musiktheater gemacht hat! Man kann sich nicht genug wundern, wie diese Intelligentia immer wieder darauf reinfällt, Kunst mit Realität zu verwechseln, anstatt das Gleichnishafte, das Dichtung und Bühnenkunst vermittelt und vermitteln soll, als solches zu sehen. Andererseits ist es doch eigentlich eine Ehre für eine Kunstschöpfung, wenn man sie soooo ernst nimmt…
Auf dem Platz vor der berühmten Frankfurter Paulskirche, wo bekanntlich 1848 die erste gesamtdeutsche Verfassung beschlossen wurde, wird derzeit auf ca. 50 Littfaß-Säulen eine Ausstellung ”25 Jahre deutsche Einheit” gezeigt, die auch Bereiche wie Religion, Kunst, Musik, Theater, Sport, Technik u.a. mit einbezieht. Sehr interessant! Aber eine große Opernpremiere – noch dazu die Frankfurter Erstaufführung des “Sussanin” –sollte wohl eher Berge versetzen können.
Dazu musste das Werk, das in der ursprünglichen Form viele Zwischenspiele, Polonaisen, Balletteinlagen, Folkoristisches etc. enthielt und über 4 Stunden dauerte, erst einmal gekürzt oder besser gesagt: in eine kompakte Form mit den wesentlichen, zeitlosen Aussagen gebracht werden. Das ist hervorragend gelungen. In dieser Fassung könnte die Oper ihren Siegeszug um die Welt antreten.
Nach der bei geschlossenem Vorhang gespielten Ouvertüre schlägt einen ein großartiges Bühnenbild in Bann: die klar konturierte, nicht etwa nebulose, Ruine eines mächtigen Torbogens – also zugleich Ein- und Ausgang, links davor auf dem Boden zwei kaputte riesige Glocken – Nachklang kriegerischer Umtriebe, dahinter der noch von Wolken durchzogene, aber sich vielleicht bald ganz aufhellende Himmel – ein Hoffnungsschimmer für die Zukunft. Und ein wunderbares Farbspiel, das sich Hans Schavernoch und Lichtgestalter Joachim Klein da ausgedacht haben. Für die Mitglieder der Chöre, die russisches Volk oder Soldaten verkörpern, hat sich Harry Kupfer viele aussagekräftige Einzelaktionen und Reaktionen einfallen lassen, sodass wir uns als Menschen unter Menschen fühlen. Die deutschen Krieger und deren Obrigkeiten hingegen singen und agieren als Kollektiv. Im 2. Akt, der in Warschau spielt, sehen wir bei der Feier des vermeintlichen Sieges die “feindliche” High Society in Abendrobe mit Sektgläsern in Händen, bis die Meldung kommt, dass der Sieg gar keiner war, gefolgt von neuerlichem wildem Kriegsgeschrei. Den Hintergrund bildet das Gemäuer einer Kirchenruine – atmosphärisch wieder sehr stark. Einen seltsam – beabsichtigt – zwiespältigen Eindruck hinterlässt dann das Schlussbild: der russische Sieg wird gefeiert, indem der gesamte uniformierte Chor starr in Reih und Glied auf den Stufen vor dieser Ruine steht, vor sich die Notenpulte mit dem Text der neuen Siegeshymne – was sie bewirken wird, bleibt offen. Das haben die folgenden Jahrhunderte gelehrt (wenn man von den historischen Ereignissen zu Beginn des 17. Jhs. ausgeht) und das lehren uns die gegenwärtigen Umtriebe rund um den Erdball. Glinkas hymnischer Schlusschor wurde tatsächlich zur russischen Nationalhymne, die immer dann gesungen warden durfte, wenn es dem jeweiligen Machthaber beliebte. (Putin z.B. hat sie zugunsten der alten Sowjet-Hymne abgesetzt.)
Die ergreifendste Szene ist freilich das nächtliche Waldbild, aus dem es kein Entkommen gibt. Kahle, schiefstehende Baumstämme, deren Wipfel nicht mehr erschaubar sind, durch querhängendes dürres Geäst undurchdringlich geworden. Ein projizierter Schneesturm im Vordergrund intensiviert die Wirkung. Vorne an der Rampe schleppen sich die Soldaten des feindlichen Heeres über die Bühne, versinken dann im Dunkel, während Sussanin, auf einen riesigen Baumstumpf gestützt, seinen finalen Monolog singt, ehe er halb hinter dem Baum, niedergestochen wird.
Obwohl Michail Glinka mehrere Jahre in Deutschland und Italien studierte, auch Frankreich und Spanien besuchte, und sich die neuesten musikalischen Errungenschaften im “Westen” angeeignet hat sowie in seinen Kompositionen das klassisch-romantische Orchester seiner Zeit zum Einsatz brachte, ist seine Musik eigenständig. Die lebhafte Ouvertüre wechselt von frischer Melodik zu Elegik, von rhythmisch beschwingten Abschnitten zu mitreißender Dramatik, und bringt alle wesentlichen Motive der Oper bereits zum Klingen, die dann im Verlauf des Stückes variabel wiederkehren.
Szene und Arie von Sussanins Tochter Antonida, die sich die Heimkehr ihres geliebten Bogan Sobinin aus dem Krieg ersehnt, um ihn endlich heiraten zu können, sind melodiös und innig. Kateryna Kasper singt diese Partie mit klangvollem jugendlichem Sopran und viel Gefühl. Die Ängste um ihren Vater und den Geliebten als neuen Partisanenführer gestaltet sie ergreifend. Die Tenorrolle des Sobinin enthält effektvolle Höhensprünge, die sein energisches Naturell gut vermitteln. Anton Rositskiy bringt die ihn zu neuen Taten beflügelnde Aussicht auf baldige Hochzeit mit vielen kleinen Liebes- und Entschlossenheitsgesten sowie tenoraler Intensität sehr glaubhaft zum Ausdruck. Eine ganz besondere Rolle fällt dem Wanja zu. In dieser Hosenrolle kann Katharina Magiera mit kräftigem, klarem Mezzo und dezidiertem Auftreten tatsächlich einen mutigen jungen Mann glaubhaft verkörpern. In kleinen Rollen sind Thomas Faulkner (vom Opernstudio) als Hauptmann und Ensemblemitglied Michael McCown als Bote bestens eingesetzt.
Mittelpunkt der Aufführung und größtes Faszinosum bleibt unweigerlich der Titelheld, für den John Tomlinson schon von der Optik her wie geschaffen ist. Sein großvolumiger Bass klingt – nach einer lange währenden Bass-Heldenbariton-Karriere – nicht mehr taufrisch, aber gerade das Raue, Rustikale, der Einsatz der Stimme auf Biegen oder Brechen beeindruckt ungemein. Seine menschliche Ausstrahlung fesselt von Anbeginn, im Dialog mit den Partnern ebenso wie in seiner Position inmitten der verschiedenen Chorfraktionen, und seine große Arie im dunklen Wald, die mehr ein Monolog ist, in Erwartung der Morgenröte, die ihm den Tod bringen wird, wird zum emotionalen Höhepunkt des Abends. Der durchgehend sehr poetische Text trägt generell zum Operngenuss bei, auch wenn man des Russischen nicht mächtig ist.
Chor und Extra-Chor der Oper Frankfurt unter der Leitung von Tilman Michael vollbringen sängerisch und, vom Regisseur optimal geführt, darstellerisch Großartiges.
Wie anders als vorzüglich kann das Frankfurter Opern- und Museumsorchester unter seinem GMD Sebastian Weigle klingen? Es ist wunderbare Musik, die da gespielt werden darf, reich an instrumentalen Besonderheiten, sangbar – von Instrumenten und Sängern – stets handlungskonform und in den großen Finali der einzelnen Akte in gewaltigen Ensembleszenen kulminierend.
PS: Dass die Leitung des Opernhauses Frankfurt, ein offenbar äußerst effizientesTeam, zu dem ich auch den Pressechef Holger Engelhardt zählen möchte, von dem wir laufend über alle Ereignisse bestens informiert und als Rezensenten optimal betreut werden, gute Arbeit leistet, bewies mir einmal mehr das offenbar äußerst motivierte Publikum, das die Werkeinführung, die der Dramaturg Norbert Abels auf mitreißende Weise vor Vorstellungsbeginn hielt, geradezu stürmte. Ad multos annos!
Sieglinde Pfabigan