GELSENKIRCHEN: TOSCA Premiere am 12. Dezember 2015
Sympathie für die neue „Tosca“-Produktion am Musiktheater im Revier will sich zunächst nicht einstellen. Die Rundöffnung im schwarzen Abdeckvorhang, durch welche Angelotti robbt, wirkt naiv klerikal, romanische Formen prägen dann auch den architektonisch kaum attraktiv zu nennenden Kirchenraum des 1. Aktes. TILO STEFFENS‘ Bühne wird von einer riesigen Leinwand mit weiblichen Aktfiguren dominiert, welche den Messner (wie immer charaktervoll: JOACHIM G. MAAß) fast die Beherrschung verlieren lassen. Interessanter Akzent. Beflügeln diese Figuren Cavaradossis malerische (und womöglich private erotische) Fantasie? Dann wäre Toscas sonst meist etwas zickig wirkende Eifersucht wohl doch gerechtfertigt. Doch auch wenn dem so ist, dieser Fingerzeig des Regisseurs TOBIAS HEYDER wirkt unbotmäßig vergrößert und auch vergröbert.
Scarpia tritt nicht mit herrischem Aplomb auf, sondern schleicht sich wie beiläufig in die Kirche Sant’Andrea della Valle. Einen imposanten Politiker gibt ARIS ARGIRIS per se nicht ab, mit seiner „privaten“ Kluft (modernisierte Kostüme: VERENA POLKOWSKI) und seinem fettig strähnigen Haar wirkt er eher wie ein Clochard. Das Te Deum erlebt er als eine Art schwarze Messe oder Walpurgisnacht, bevölkert von lasziven, erotisch stigmatisierten Figuren, in deren Umarmungen sich der Polizeichef wollüstig verliert.
Der 2. Akt liefert eine Fortsetzung solcher Bilder, verdeutlicht aber stimmig ihren zunächst nur bedingt nachvollziehbaren Sinn. Säulen mit Reliefgesichtern deuten an, dass die Handlung im Palazzo Farnese spielt. Bei Heyder/Steffens ist er freilich mehr eine private Gemäldegalerie Scarpias, Kunstfiguren prägen sein Leben. Es wird auch von Musik geprägt, die von einem Grammophon kommt (es ist anspielungsreich die akustisch leicht verzerrte Arie „Erbarme dich“ aus Bachs „Matthäus-Passion“). Dirigent RASMUS BAUMANN lässt die musikalische Fremdeinwirkung auch am Schluss nochmals zu. Wahrscheinlich überzeugte ihn Heyders unkonventionelles Scarpia-Porträt.
Mit Aris Argiris (dem MiR seit langem verbunden) erlebt man keinen überlegenen Machtmenschen, sondern – ganz banal ausgerückt – ein armes, vom Leben enttäuschtes Würstchen, das sich nur mühsam auf seinem wie auch immer erklommenen Thron hält. Seine demonstrativ zur Schau getragene erotische Coolness („Tosca è un buon falco“) ist nur Behauptung, immer wieder ist die innere Angst von Kontakten mit Frauen zu spüren. Ein Mann letztlich für die Couch. Aber dorthin würden Scarpia keine zehn Pferde bringen, er betreibt lieber Selbsttherapie mit imaginiertem himmlischem Personal. Tobias Heyder gelingt ein unheimlich tiefenscharfes Porträt, und der Sänger folgt ihm mit seiner virilen Stimme offenbar bedingungslos. Die Umarmung beim Schlussapplaus sprach Bände.
Sowohl Tosca als auch Cavaradossi sind Künstlerpersönlichkeiten, an denen die politische Außenwelt bislang vorbei ging, wobei sie natürlich ein sehr viel naiverer Typ ist „Vissi d’arte“). Nun aber werden sie in ein brutales Leben hinein gestoßen und verbluten daran. Der Maler durch einen Genickschluss Spolettas, der eigentlich nur ein vorgetäuschter sein sollte. Was Tosca blüht, welche in Gelsenkirchen nicht von den Zinnen der Engelsburg in den Tod springt, sondern die Leiche ihre Liebsten jammernd in die Arme presst, möchte man sich nicht ausmalen. PETRA SCHMIDT gestaltet diese Schmerzensszene bewegend. Im 1. Akt (hier noch mit einigen vokalen Schwächen) gibt die die Kokette, im Mittelbild findet sie (mit vielen darstellerischen Nuancen) zu einer gestärkten Identität, um dann zuletzt in Verzweiflung zu enden. Ein großartiges Porträt der Sängerin, nun auch Sägefisch voll beglaubigt.
Darstellerisch sehr agil gibt sich weiterhin der amerikanische Tenor DEREK TAYLOR (Cavaradossi) und erfreut zudem durch eine attraktive Erscheinung. Sein Gesang bewegt sich vornehmlich im Spinto-Forte, aber das sehr wirkungsvoll. Als Angelotti tönt DONG-WUN SEO basswuchtig. Aus dem Ensemble „Junge Stimmen am MiR“ sind SION CHOI (Hirte), PETER REMBOLD (Sciarrone) und JACOUB EISA (Schließer) im Einsatz. Über WILLIAM SAETRE (Spoletta) sollte bezüglich vokaler Verfassung besser nichts verlauten.
Rasmus Baumann bekommt mit der NEUEN PHILHARMONIE WESTFALEN den flammenden Gestus von Puccinis Blutdrama, aber auch den seidig schimmernden Klang lyrischer Passagen bestens in den Griff. Premierenbeifall gab es berechtigt für alle Bereiche des Musikalischen. Den Regisseur traf einige Missbilligung. Zu Unrecht.
Christoph Zimmermann