Claude Debussy: Pélleas et Mélisande « halbszenisch »– Berliner Philharmonie, 20.12.2015, letzte Aufführung
Sir Simon Rattle und Peter Sellars zelebrieren eine große Symphonie mit choreographiertem Gesang
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Gerald Finley, Christian Gerhaher. Foto: Monika Rittershaus
Ein edler Opernabend wurde nach 3 ½ Stunden und recht leer gewordenen Sitzreihen dankbar beklatscht. In einer sogenannten „halbszenischen“ Fassung hat der britische Regiefeinspitz Peter Sellars – wie schon bei den beiden Bach-Passionen – mit Sir Simon und den Berliner Philharmonikern Maurice Maeterlicks lyrisches Drama in fünf Akten in ein originelles Bewegungstheater transponiert. Herausgekommen ist als eigenständiger Ansatz eine Materialisierung/Entmystifizierung der weiblichen Titelfigur. Mélisande wird in einer ununterbrochen körperbetonten Aktion mit allen („vertrockneten“) Männern im Stück zu einer Art „Lulu-Desdemona“, Tochter der Kundry bzw. „Melusine-Loreley“. Das ergibt spannende Momente, zumal sich das dramatische Geschehen aus der „banalen“ Dreiecksgeschichte heraus auf eine grundsätzlich polarisierende Mann-Frau Konstellation zubewegt. Da darf Golaud schon mal Otello oder blinden Oedipus spielen, wenn männliche Urängste auf männliche Ursehnsüchte („Das ewig Weibliche zieht uns hinan“) prallen. Im kahlen Ambiente des Großen Saals der Berliner Philharmonie wurden als szenischer Rahmen zwei schwarze Holzpodeste installiert und fünf Lichtsäulen in den Farben blau-grün, blau-rot, blau-magenta scheinbar willkürlich in das Geschehen platziert. Vielleicht wissen wir mehr über deren dramaturgischen Sinn in der kommenden Videofassung.
Der eigentliche Star des Abends ist das Orchester. Mondsüchtig könnte man werden in den silbern-milchigen Klangfluten. Sir Simon Rattle ist an diesem Abend bzw. sein Orchester mit ihm zu einer vollkommenen Symbiose verschmolzen. Vielleicht markiert diese Aufführungsserie den Höhepunkt der Zusammenarbeit des britischen Pultstars mit den „Berlinern“, auf jeden Fall aber meiner Meinung nach, was die Oper betrifft. Niemand vor Rattle hat so raffiniert die kompositorischen Bezüge zwischen Parsifal/Tristan und Pélleas herausgearbeitet, niemand hat mit seiner Interpretation so sehr auf Zukünftiges wie Britten und seinen Peter Grimes gezielt. Selbst mit der unvergessenen, großartigen Wiener Aufführung unter Claudio Abbado im Kopf, war ich absorbiert von dieser unendlichen gewaltigen Symphonie mit Gesang. Daher hatte ich Vorbehalte gegen die „szenische“ Aktion, die diesem musikdramatischen Konzept eigentlich zuwiderläuft. Aber es wäre nicht Sellars, gelängen nicht trotz der billigen wirkenden Beleuchtung musikalisch stringente Höhepunkte in der Interaktion zwischen Golaud-Mélisande, Pélleas-Mélisande, Golaud-Yniold oder Mélisande-Arkel.
Vokal ragen aus dem guten (Bernarda Fink als Geneviève, Sascha Glintenkamp als Schäfer, Jörg Schneider als Arzt) bis sehr guten Ensemble (Franz-Josef Selig als König Arkel) vor allem Gerald Finley als Golaud und Magdalena Kozenà als Mélisande hervor. Die beiden fügen sich auch am besten ins szenische Konzept. Besonders freut es mich, dass Magdalena Kozenà wieder in stimmlicher Top-Verfassung ist und sie in der Mélisande (nach einer unidiomatischen Carmen und einem nicht gerade ansprechende Solo in der 2. Mahler) wieder eine ihrer Stimme entsprechende Idealpartie gefunden zu haben scheint. Auch schauspielerisch kreiert sie magische Momente zwischen Unschuld und trauriger Verführung, als ein durch Meer und Sturm gebeuteltes Zauberwesen, der Inbegriff der fin-de-siècle Verführerin zwischen erotischer Indifferenz und in kühler Angst verfangener Trauer. Unglaublich intensiv gerät ihr Weggleiten in eine andere Welt und Tod im gewalttätigen vierten und elegisch absterbenden fünften Akt. Das Finale bringt auch den Golaud des Gerald Finley zu seiner zu späten Einsicht in Schuld und Verstrickung. Stimmlich hat es seit George London keiner beeindruckendere Baritonstimme in diesem Fach mehr gegeben. Mit unbegrenzten Reserven lässt er seinen kreatürlichen Schmerz vor Verlassensein und Einsamkeit im Riesenraum des Auditoriums zu Stimme materialisieren. Ein gewalttätiges eifersüchtiges Monstrum, ein seelischer Krüppel, der andere für seine Befangenheit tötet, stellt Golaud am Ende selber ein gebeugtes Mannsbild dar, ein archaisches Monument von Verlust aus Unverstehen.
Sein Halbbruder Pélleas wurde vom deutschen Baritonbarden Christian Gerhaher verkörpert. Substituiert Gerhaher in den ersten beiden Akten noch fehlenden Höhenglanz und eine schwache Tiefe durch (sehr unfranzösische) Überartikulation, so steigert er sich in der zweiten Hälfte des Abends und lässt seine Luxusstimme endlich entlang der Melodiebögen verströmen. Sein Duett mit Mélisande am „Brunnen der Blinden“ im vierten Akt kann so zum Höhepunkt der Oper werden. Vollkommen überirdisch singt auch ein Knabensopran in der Rolle des Yniold. Im Programmheft sind zwei Namen (Elias Mädler, Hanno Eilers) angegeben. Wer auch immer von beiden gesungen hat, es ist auf jeden Fall keine Kleinigkeit, mit einem Gerald Finley von Stimme und Spiel her auf Augenhöhe mithalten zu können. Großartig.
Einen wahrlich beeindruckenden Abend hat man in der Berliner Philharmonie erleben können. Wer nicht dabei war, wird sich den vielen Kameras und Mikros nach zu schließen die Aufführung in einigen Monaten sicherlich auf DVD oder Bluray ansehen können. Tun Sie das, wenn sie diese Oper mögen.
Dr. Ingobert Waltenberger