Berlin/ Staatsballett: „GISELLE“ mit Polina Semionova, 04.03.2016
Giselle mit Polina Semionova, Foto Yan Revazov
Willkommensbeifall, schon als sie – Polina Semionova – als Giselle aus der Holzhütte huscht. Die Berliner, d.h. Menschen aus aller Welt, lieben sie und vermissen sie sehr. Wenn sie in der Stadt, in der sie unter Vladimir Malakhov im Turbotempo zum Star wurde, nun als Gast beim Staatsballett Berlin auftritt, ist das Haus (wieder) voll, wie an diesem Abend die Staatsoper im Schillertheater.
Eine junge, superschlanke Frau ist sie geworden, doch der mädchenhafte Charme, gepaart mit der dieser Rolle innewohnenden Schüchternheit, strahlt nach wie vor aus ihr heraus, wenn sie federleicht über die Bühne tänzelt. Schade nur, dass der Bauernrock ihre langen Beine weitgehend verdeckt (Bühne und Kostüme: Peter Farmer). Dass sie dennoch ihr ganzes Dorf und sogar adlige Herrschaften bezaubert, glauben wir sofort.
Dem Liebreiz des unschuldig-schönen Landmädchens kann bekanntlich weder der Förster Hilarion (Mehmet Yümak) noch Prinz Albrecht (Alexander Jones) widerstehen. Ihretwegen hat er die Hütte gegenüber erworben und wirbt nun als Bauer verkleidet um Giselle, der ansonsten nichts über das Tanzen geht.
Und was bedeuten die Ängste der Mutter um die Schwächliche, wenn sie doch so gerne wirbelt, insbesondere mit ihrem geliebten Alfred. So beim Dorffest, das die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Marius Stravinsky entsprechend aufmischt. Beim Bauerntanz beeindrucken aber auch Marina Kanno und vor allem Arman Grigoryan, ein Tänzer mit elastischen Sprüngen, Beweglichkeit und mit Humor gewürzter Perfektion. Einer, dem die Zukunft gehören sollte.
Ernsthafter gibt sich Gasttänzer Alexander Jones in der Rolle des Alfred. 10 Jahre lang war er der (oder ein) Star des Stuttgarter Balletts, ging jedoch 2015 zwecks neuer Herausforderungen – so seine Worte – nach Zürich. Dort waren Polina und er in „Giselle“ bereits am 22. Januar 2016 ein Paar und ernteten für ihre Performance hohes Lob.
Jones gilt als ein Tänzer der großen Gefühle, und die muss er als Albrecht dartun. Er zeigt sich als kraftvoller Interpret mit geschwinden Schritten und geschmeidigen Bewegungen. Verliebtheit, Angst, Trauer und Reue spiegeln sich in den Bewegungen, weniger in der Mimik.
Glaubhaft jedoch seine Verlegenheit und sein hilfloses Erschrecken, als Hilarion seine wahre Identität enthüllt und außerdem noch seine aufgetakelte Verlobte samt Vater und Entourage erscheint. Für ihn eine Blamage, für Giselle jedoch ein Schock sondergleichen und der große Moment für Polina. Mit flackerndem Wahnsinn im Blick und taumelnd wirren Schritten tanzt sie sich in den Tod.
Tanzen kann diese Giselle nun jede Nacht im Reich der Willis, die sämtlich, genau wie sie, vor der versprochenen Hochzeit gestorben sind und sich nun, befehligt von ihrer Königin Myrtha, an den unzuverlässigen Männern rächen. Elena Pris tanzt die Myrtha gekonnt und sehr hoheitsvoll. Doch der Furor und die Bösartigkeit, die dieser Herrscherin innewohnen, sind ihr offenbar fremd. Märchenhaft fremdartig wirkt irgendwie aber auch diese Choreographie und Inszenierung aus dem Jahr 2000 von Patrice Bart nach Jean Coralli und Jules Perrot.
Während das Corps de ballet hin und her über die Bühne wogt, müssen die Solisten im Reich der schwebenden Mädchen für Pepp und den Fortgang der Handlung sorgen. Mehmet Yümak, der als von Reue Gequälter zur Nachtzeit Giselles Grab aufsucht, überzeugt hier als ein von den Willis zu Tode Gehetzter.
Diese Schicksal bleibt Albrecht, der jetzt Kummer und Verzweiflung tänzerisch deutlicher glaubhaft macht, dank Giselle erspart. Sie kennt keine Rachsucht, die schützt ihn mit ihrem Körper vor Myrtha und den Willis. Zwei reife Künstler, die uns ihre Liebe über den Tod hinaus vor Augen führen, er mit athletischem Einsatz, sie mit innig-fragiler Zartheit. Trotz des Könnens der anderen Ersten Solisten – Polina mit ihrer Ausstrahlung fehlt dem Staatsballett Berlin, das unter Nacho Duato noch keinen neuen Weg gefunden hat.
Ursula Wiegand