Berlin / Philharmonie: J. S. BACHS „MATTHÄUSPASSION“ UNTER ENOCH ZU GUTTENBERG – 23. 3. 2016
In der Osterzeit überschlagen sich in Deutschland die Angebote an Aufführungen der „Johannes“- und „Matthäuspassion“ von J. S. Bach in Kirchen und Konzertsälen, von Laien- und professionellen Chören und unter Dirigenten mit sehr unterschiedlicher Auffassung nicht nur der musikalischen Seite, sondern auch darüber, wie diese Passionen aus der 1. Hälfte des 18. Jh. in unserer Zeit zu interpretieren sind.
Enoch zu Guttenberg hat seine ganz speziellen Vorstellungen, die er auch bei der diesjährigen Aufführung der „Matthäuspassion“ in der Berliner Philharmonie mit der Chorgemeinschaft Neubeuern, die über einen sehr schönen, ausgewogenen Chorklang aus natürlichen, ausgesprochen schönen Stimmen in allen Stimmlagen verfügt und auf die streckenweise extremen Vorgaben des Dirigenten jederzeit exakt reagieren kann, dem Münchner Knabenchor, dem in allen Relationen guten Orchester der KlangVerwaltung und einem guten Solistenensemble verwirklichte. Ihm war eine sehr eindringliche, dramatische Aufführung zu danken, die sich wie ein hell leuchtender Stern von vielen durchaus guten und soliden Aufführungen andernorts abhob und nicht nur im Musikleben Berlins einen Glanzpunkt setzte.
Enoch zu Guttenberg ist eine bezwingende, charismatische Künstlerpersönlichkeit. Ihm geht es nicht nur um Klangschönheit, sondern vor allem darum, mit großer Ernsthaftigkeit und emotionalem Tiefgang, hinreißender Lebendigkeit und musikalischer Intensität, Inhalte zu vermitteln. Er lebt und durchlebt dieses grandiose Bekenntnis der ergreifenden Bachschen Sakralwerke.
Die „Matthäuspassion“ unter seiner Leitung war eine absolute Bereicherung. Er spürte den hochdramatischen Momenten dieser im Vergleich zur dramatischen „Johannespassion“ eher „statischen“, erzählenden, beschaulicheren Passion nach und betonte durch zwingend gestaltete Passagen die Dramatik, so wie man es sich wünscht, ohne in die einstmals vom Leipziger Rat kritisierte „Opernhaftigkeit“ abzudriften. Fernab aller modernen Hektik ließ er die Choräle sehr gut ausmusizieren. Das quasi eingehämmerte „Barabam“, das fast stoisch kam, wird man in dieser Eindringlichkeit nicht vergessen. Wie von strahlender Erkenntnis geprägt, erklang hingegen das „Wahrlich, er ist Gottes Sohn gewesen“. Zu dieser, seiner ganz persönlichen, tief empfundenen Interpretation gehört viel Mut, aber genau diesen Mut brauchen diese Werke, um diese Geschichte glaubhaft zu erzählen.
Carmela Konrad sang die Sopranpartie ziemlich vibrato-arm, aber dennoch mit eindringlicher Beseeltheit.
Die großartige Mezzosopranistin Anke Vondung machte einmal mehr deutlich, wie wichtig es ist, dass die Altpartie von einer gut timbrierten Frauenstimme mit Innigkeit gesungen wird, wenn sie den Zuhörenden auch emotional erreichen soll. Sie besitzt alle gestalterischen Fähigkeiten, um dieses Ziel beim Publikum zu erreichen, ohne dass ihre Professionalität vordergründig spürbar wäre. Sie singt mit schöner Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit und lässt den Hörer nicht ahnen, welche technischen Schwierigkeiten eine Partie enthält. Sie erreicht ihn einfach mit ihrer schönen Stimme, denn bei ihr klingt alles mühelos. Sie besitzt alle gesanglichen Tugenden, um zum gewünschten Ausdrucksziel zu kommen.
Tilman Lichdi war mit seinem sehr schönen Tenor bereit, gestalterische Kompromisse einzugehen, um den Vorgaben des Dirigenten gerecht zu werden, was durchaus keine Kritik sein soll.
Thomas E. Bauer brachte seinen vielschichtigen Bass punktgenau für alle Rollen ein. Von wohlklingenden Basstönen bis zu fies hässlichen Tönen hatte er für jede der kleineren, im Passionsgeschehen Akzente setzenden und die jeweilige Situation umreißenden Rollen die entsprechende Klangfarbe und eine breite Palette an Ausdrucksmöglichkeiten.
Mit schwacher Stimme trat Falko Hönisch als Christus in Erscheinung, die zentrale Gestalt, von der man viel Ausstrahlung erwartet.
Uneingeschränktes Lob verdient hingegen Daniel Johannsen als Evangelist, der diese Partie gegenwärtig weltweit singt. Er ist fähig, vom zartesten Piano bis zu fast heldentenoraler Kraft seine stimmlichen Fähigkeiten einzubringen, um diese Partie äußerst lebendig zu gestalten, was diese Partie auch braucht, um die Passionsgeschichte mit Lebhaftigkeit zu erzählen. Damit bewegte er sich mit den bedeutendsten Evangelisten der Vergangenheit wie Ernst Häfliger, Peter Schreier, Helmut Krebs u. a. auf Augenhöhe.
Das ergriffene Publikum dankte nach langanhaltender Stille mit überschwänglichem Applaus für eine besondere Aufführung der oft zu hörenden Passionsgeschichte.
Ingrid Gerk