STUTTGART/ Staatsoper: VERKNÜPFUNG VON MOTIVEN
Premiere „Reigen“ von Philippe Boesmans am 24. April 2016 in der Staatsoper/STUTTGART
Die Regisseurin Nicola Hümpel arbeitet intensiv mit einem Live-Video (Judith Konnerth), bei dem ein Paar (suggestiv: Julia von Landsberg, Michael Shapira) sich gegenseitig mit betörenden Blicken leidenschaftlich umgarnt. Das sind auch musikalisch die stärksten Szenen in dieser Inszenierung, die sich visuell immer mehr verdichtet.
Der Graf: Andre Morsch. Copyright: A.T.Schaefer
„Der Reigen“ von Arthur Schnitzler war einer der größten Theaterskandale des 20. Jahrhunderts, der Autor selbst verhängte schließlich aufgrund von Prozessen ein Aufführungsverbot. Geschildert werden zehn erotische Treffen zwischen je einem Mann und einer Frau. Zuerst begegnen sich Dirne und Soldat, dann Soldat und Stubenmädchen, Stubenmädchen und Junger Mann – und am Ende trifft ein Graf wieder auf die Dirne. Psychologisch kann das zum Teufelskreis werden, denn es geht immer wieder nur um Sex und das Seelenleben kommt eindeutig zu kurz. Dies gilt auch für die Szene mit dem Dichter und seiner Angebeteten in der Badewanne. Die Frau verunstaltet den Mann schließlich mit schwarzer Farbe. So lautet hier jedenfalls Nicola Hümpels szenische Aussage (Bühne: Oliver Proske). Man sieht ein breites Steingebäude wie aus Beton, das irgendwie zusammengepresst wirkt. Die Bühne gerät in Bewegung, an der Wand sieht man große Löcher, durch die einzelne Gegenstände wie das Bett oder auch Personen hindurchgehen und durchfahren. So bleibt alles in Bewegung. Motive und Verhaltensweisen wiederholen sich in wahrhaft erschreckender Weise. Obwohl sich viele zieren, kommt es trotzdem zu sexuellen Szenen und Ausschweifungen. Zur Verknüpfung von Motiven gesellt sich ein visuell raffiniertes Vernetzungswerk, das trotz aller Schlichtheit die Sinne gefangen nimmt. Auch die Kostüme von Teresa Vergho passen sich diesen Eindrücken an.
Die raffiniert instrumentierte Musik des belgischen Meisterkomponisten Philippe Boesmans besitzt Ironie, Humor und vor allem auch satirische Schärfe. Dies zeigt sich beim Bach-Choral, der die wiederkehrende Potenz des jungen Mannes untermalt – oder beim verfremdeten Zitat aus Richard Strauss‘ Oper „Salome“: „Man töte diese Mücke!“ Weitere Reminiszenen kann man aus Monteverdis Oper „Die Krönung der Poppea“ heraushören. Und beim Nähmaschinen-Fugato erklingt plötzlich die berühmte Melodie „Was Gott tut, das ist wohlgetan“. Sogar an das „Hohelied der Bibel“ wird erinnert, es gerät zur Parodie beim Auftritt eines imaginären Paares aus dem Off. Dazu wandern die einzelnen Requisiten von Szene zu Szene, selbst Zigarren bewegen sich mit und die „Sex-Musik“ mutiert zur Musik des Zusammenseins. „Das Lied von der ewigen Liebe“ verbindet bei Boesmans Szenen und Paare mit kleinen musikalischen Motiven. Und der Dichter ist beim Treffen der Sängerin mit dem Grafen telefonisch anwesend – eine Posaune mit Wa-Wa-Dämpfer charakterisiert ihn in raffinierter Weise. Möbel und Wände scheinen miteinander zu „kopulieren“, zehn kontaktgestörte Personen kommen sich dabei trotzdem nicht näher. Die Live-Kamera beobachtet alles peinlich genau. Viele wiederkehrende Motive begleiten suggestiv die physischen Autritte der einzelnen Figuren. Wirklich erstaunlich sind hier allerdings auch die Bezüge zur Musik Alban Bergs, was sich nicht nur bei der kammermusikalischen Direktheit zeigt. Tremolo- und Glissando-Passagen der Streicher werden von Pizzicato-Akzenten und mit Flatterzungen gespielten Flöten ergänzt. Der Verzicht auf die Herstellung harmonischer Tonalitätsbeziehungen rückt in greifbare Nähe, differenzierte Formtypen bestimmen die musikalische Charakteristik.
Rebecca von Lipinski (Junge Frau), Shigeo Ishino (Gatte). Copyright: A.T.Schaefer
Gerade die rhythmische Deklamation unterstreicht der Dirigent Sylvain Cambreling mit den einzelnen Sängerinnen und Sängern und dem glänzend disponierten Staatsorchester Stuttgart durchaus überzeugend. Lauryna Bendziunaite kann der Dirne eine glanzvolle gesangliche Farbgebung verleihen, während Daniel Kluge als Soldat und Stine Marie Fischer als Stubenmädchen mit berückender Kantabilität nicht geizen. Sebastian Kohlhepp als junger Herr, Rebecca von Lipinski als junge Frau und vor allem Shigeo Ishino als Gatte können in fesselnder Weise verdeutlichen, wie es Philippe Boesmans immer wieder gelingt, dass sich die Tonsprache von der Fessel des Wortes löst. Anklänge an die Zwölftonmusik bleiben nicht aus, Boesmans arbeitet dabei jedoch äusserst geschickt mit Zitaten und Querverweisen. Kora Pavelic als süßes Mädel, Matthias Klink als ausdrucksvoller Dichter sowie Melanie Diener als überaus strahlkräftige Sängerin bilden einen faszinierenden Klangkosmos. Andre Morsch als sonorer Graf ergänzt dieses beglückende Ensemble in hervorragender Weise. Piccoloflöten erinnern an Kopfschmerzen, eine traurige Trompetenmelodie verdeutlicht die Begegung von süßem Mädel und Gatte, in der Bassklarinette klingt das „Lied der ewigen Liebe“ nach. Ein jazzig-trauriges Saxophonsolo versinnbildlicht die wundersame Begegnung des Gatten mit dem süßen Mädel.
Dies alles arbeitet der Dirigent Sylvain Cambreling (der auch die Uraufführung 1993 leitete) ausgezeichnet heraus. Die Musik sprüht nur so vor Witz, Grandezza und Esprit. Feingliedrig beschreibt sie hier wiederholt Äusserungen und Reaktionen. Die wichtigste Inspirationsquelle ist für Philippe Boesmans eindeutig der Text. Er passt sich ganz der harmonischen Sprache der Liebe an, vor allem in den weitausladenden Legato-Bögen der großangelegten Arien. Nicola Hümpel ist bei dieser sehr interessanten Produktion auch für Videofilm Regie & Schnitt sowie Judith Konnerth für Videofilm Kamera verantwortlich. Es wäre gut, wenn die Regisseurin die eine oder andere Szene noch etwas mehr psychologisch verdichten könnte. Dann würde das komplizierte Beziehungsgeflecht noch konzentrierter und plastischer werden.
Doch insgesamt ist es eine ausgesprochen gelungene, ja beflügelnde Arbeit. Das Ensemble und der Komponist Philippe Boesmans wurden vom Premierenpublikum bei dieser Produktion der Oper Stuttgart mit Nico And The Navigators (Libretto: Luc Bondy) enthusiastisch gefeiert.
Alexander Walther