Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ im Wilhelma-Theater Stuttgart
AUFSPALTUNG IN ZWEI HOFFMANN-FIGUREN
Premiere: Bernd Schmitt inszeniert Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ mit dem Opernstudio der Musikhochschule im Wilhelma-Theater am 8. Juni 2016/STUTTGART
Das Motiv des Spiegelbildes spielt bei Bernd Schmitts Inszenierung eine überragende Rolle. Die Handlung ist in zwei Küchen angesiedelt, E.T.A. Hoffmanns Doppelgänger-Motiv greift also auch hier. Alles ist fehlerhaft gespiegelt. Hoffmann ist gleichsam Teil eines imaginären dualen Systems, das sich immer weiter aufzuspalten scheint. Auch die unheimlichen und gespenstischen Elemente kommen nicht zu kurz, man sieht Monsterfiguren und skurrile Gestalten, die nicht sterben können, auch wenn man sie totschießt. Schmitt hält Offenbachs Oper für Opernstudenten eigentlich zu schwierig, deswegen hat man eine recht gelungene Fassung für ein Kammerensemble erstellt, die von Jan-Benjamin Homolka stammt. Das Libretto besorgte Jules Barbier. Die Protagonisten ergänzen, kommentieren, stören oder zerstören sich unaufhörlich in einem fast schon teuflischen Kreislauf. Wunsch, Wahn und Wirklichkeit beherrschen die Gedanken des krankhaften Alkoholikers Hoffmann, der auch an sich selbst leidet. Wie in einem unendlichen Spiegelkabinett überlagern sich hier die teilweise dämonischen Ereignisse.
Es ist eine spannende Reise durch Raum und Zeit, die niemanden kalt lässt. Zwischen erotischer Erfüllung künstlerischer Selbstverwirklichung schwanken die beiden Hoffmann-Figuren in der suggestiven Darstellung von Tianji Lin und Roman Poboinyi hin und her, kommen nie zur Ruhe. Auch gesanglich ergänzen sie sich mit ihren betont schlanken Kantilenen in fabelhafter Weise. Im Berliner Weinkeller (der hier die Küche ist) erzählt Hoffmann verzweifelt von seinen erotischen Niederlagen. Parallel dazu läuft in der naheliegenden Oper Mozarts „Don Giovanni“, in welcher Hoffmanns große Liebe Stella die Donna Anna singt. Plastisch verdeutlicht Bernd Schmitts psychologisch glaubwürdige, mit modernen Elementen spielende Inszenierung, dass Olympia (koloratur- und höhensicher: Clemence Boullu) als automatische Puppe, Antonia als Künstlerin und die Kurtisane Giulietta (facettenreich: Anais Sarkissian) unheimliche Abspaltungen von Stella sind. Die Bellini-Melodik ragt grell hervor. Coppelius, Mirakel und Dappertutto sind Abspaltungen des Stadtrats Lindorf – sie werden von Philipp Franke, Byung-Gil Kim (Lindorf) und Thomas Roshol sehr einfühlsam gesungen. Die Abspaltungen und Verdoppelungen stehen bei Schmitts Inszenierung (Bühnenbild und Kostüme: Birgit Angele) entscheidend im Zentrum des Geschehens. Man sieht zuletzt lauter Hoffmänner, die sich auf einem imaginären Podest mit Brillen und T-Shirts gegenseitig erschießen. In einem Videofilm im imaginären Hintergrund sind immer wieder verschiedene Personen zu sehen – einmal sogar ohne Augen in einer gespenstischen Sequenz. Antonia ist hier nicht im eigentlichen Sinne krank, wird jedoch zum Opfer einer gnadenlosen gesellschaftlichen Maschinerie. Die Traumlogik gebiert dabei merkwürdige gedankliche Sprünge, zuweilen wird in der Küche sogar gebügelt und Keyboard gespielt. Olympia verbrennt sich am Herd die Hand. Außerdem hantiert Hoffmann mit einer leblosen Puppe und nimmt sie sezierend auseinander.
Trotz des tristen Bühnenbildes mit den Kühlschränken, in die immer wieder Personen hineingeschoben werden oder verschwinden, kommt die berühmte venezianische „Barcarole“-Szene mit ihrem berührenden D-Dur-Ende zu ihrem Recht. Das Terzett Antonio mit der Stimme der Mutter und Mirakel gerät auch bei dieser Aufführung zu einem Höhepunkt. Dies ist aber auch den hervorragenden Sängern zu verdanken, die sich ideal ergänzen. Lara Scheffler als exaltierte Antonia, Philipp Franke als robuster Mirakel und Staatsopern-Gast Maria Theresa Ullrich als souveräne Stimme der Mutter erreichen hier einen dynamisch fein und klug ausgeklügelten gesanglichen Gipfel. Die ungeheure Ausdrucksleidenschaft dieser gar nicht so sehr operettenseligen Musik wird dabei kongenial umgesetzt. Robin Neck als Chochenille und Pitichinaccio fügt sich nathlos in das exzellente Ensemble ein, das zu großen Hoffnungen berechtigt.
Studierende der Instrumentalklassen der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart musizieren unter der einfühlsamen Leitung von Nicholas Kok wie aus einem Guss. Dies gilt auch für die B-Dur-Romanze mit der Hymne an die Muse, die von Lisbeth Juel Rasmussen (sie verkörpert auch Niklausse) mit innerer Strahlkraft und leuchtenden Kantilenen verkörpert wird. Die eigentliche musikalische Überraschung dieses aufregenden Abends ist jedoch am Schluss zu verzeichnen, wenn nämlich Offenbachs unvollendete Oper von atonalen Klavierklängen ergänzt wird. Hoffmann ist zuletzt als berauscht zusammensinkender Dichter wieder allein, alle Figuren haben ihn verlassen. Die charakteristisch „schwankend“ nachschlagenden Achtel von Chor und Orchesterbegleitung werden hier ebenfalls überzeugend zu Gehör gebracht, sie bereiteten schon bei der Uraufführung des Werkes große Schwierigkeiten. Gelegentlich kommt es bei dieser transparenten Bearbeitung aber auch zu einer erstaunlichen rhythmischen Vereinfachung, die sängerfreundlich wirkt. Auch Übergänge wie etwa vom As-Dur-Dreiklang zum Quartsextakkord werden dabei harmonisch spürbar vereinfacht. Im zweiten Akt trifft Kok mit dem konzentriert agierenden Ensemble den festlich-lärmenden Polonaise-Charakter ungemein erfrischend. Man begreift, dass Hoffmanns Erzählabsicht damit eigentlich zerstört wird. Eine dynamisch gesteigerte Reprise und der Übergang zur Coda verlaufen bei dieser Aufführung rasant und nahtlos – aber es kommt nie zu Verzögerungen. Wortspiele, Gleichklang, Symmetrie, Wiederholungen und Ostinato-Bewegungen ähneln auch hier Offenbachs satirischen Operetten, werden aber dank Nicholas Kok und dem Ensemble immer wieder durchleuchtet und verfeinert. Auch der hymnisch sich steigernde und dann zusammenfallende Ensemblesatz zeigt im Wilhelma-Theater starke Wirkungskraft. Selbst hypnotische Momente nehmen die Zuschauer gefangen. Dass Offenbach Mitleid mit den handelnden Personen fern liegt, wird ebenso deutlich. Philipp Franke kann der „Augen-Arie“ als undurchsichtiger Coppelius ungeheure Präsenz verleihen, denn der Umschlag von grotesker Komik zu visionärer Dämonie besticht in vielen Nuancen. In einer weiteren markanten Rolle gefällt Sandro Machado als Spalanzani und Franz. Vielleicht hätte man bei der Inszenierung noch mehr die eigentlich romantischen Aspekte dieser Oper berücksichtigen sollen. Aber die unheimlichen Facetten des Werkes kommen trotzdem nicht zu kurz.
Die Welt ist fehlerhaft – das ist die entscheidende Aussage dieser ungewöhnlichen Inszenierung, die das Werk in einem neuen Licht zeigt. Für das gesamte Ensemble gab es zu Recht große Ovationen.
Alexander Walther