WIE EINE OFFENBARUNG: Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter Stephane Deneve beim Konzertzyklus 201372014 am 17. Januar 2014 in der Liederhalle/STUTTGART
Maurice Ravels “Pavane pour une infante defunte” wirkte bei dieser subtilen Wiedergabe im Beethovensaal unter der Leitung von Stephane Deneve sehr sphärenhaft und fast schon überirdisch. Erinnerungen an den würdevollen Schreittanz des 16. Jahrhunderts blieben hier nicht aus. Man erinnerte sich sofort an das Velazquez-Gemälde, wo die Einsamkeit und Verlorenheit einer Infantin in einem zeremoniellen Prachtgewand erscheint. Bei dem raffiniert komponierten Rondo sprudelten die Melodien bei dieser Wiedergabe unerschöpflich hervor. Melancholie wirkte hierbei keineswegs störend, sondern begleitete die impressionistische Stimmung in minuziöser Präzison.
Eine regelrechte Entdeckung war dann die aufregende Interpretation der Sinfonie Nr. 1 von Henri Dutilleux, wo das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR eine beindruckende Leistung bot. Dutilleux war gerade 35 Jahre alt, als er im Jahre 1951 sein erstes Orchesterwerk (eben diese Sinfonie) der Öffentlichkeit präsentierte. Der Kopfsatz mit seiner großangelegten Passacaglia huldigte den polyphonen Strukturen sowie gewaltigen Unisono-Einsätzen. Sehr klar meldete sich die Kontrabass-Stimme im durchsichtigen Orchesterbett. Virtuos und vor wilder Energie nur so strotzend erschien dann das texturenreiche Scherzo. Das lyrische Intermezzo verzauberte die Zuhörer magisch, beeindruckte durch seine schwebende Geradlinigkeit. Man erinnerte sich auch an Debussy und Ravel. Als Kopfsatz mit Variationenfolge gefiel das Finale, dessen massiver orchestraler Ausbruch vor allem bei den Blechbläsern unter die Haut ging. Schon im Kopfsatz strömten die harmonischen Bewegungen zu einem fast unerreichbaren Gipfel, der in einer Crescendo-Steigerung musikalisch eskalierte. Überschäumende Dynamik in einem neuen harmonischen und klangfarblichen Gewand fesselte hier das Publikum. Sergej Rachmaninows viertes Klavierkonzert in g-Moll op. 40 wird oft kritisiert, es heißt, es fehle ihm an pianistischem Glanz. Tatsache ist, dass der 1970 in den USA geborene Pianist Nicholas Angelich vor allem aus dem kapriziösen Finale mehr machte als viele andere Interpreten.
Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR begleitete ihn mit Verve und Drive. Stephane Deneve ließ vor allem die kunstvolle Synthese von Sonaten- und Variationssatz voll zur Geltung kommen. Da strahlten im Orchester alle Lichter auf. Und der versierte Pianist antwortete den Musikern im Kopfsatz Allegro vivace sogleich mit einer wahrhaft elektrisierenden Einleitung. Der Achteltriolen-Puls erinnerte sogar an Beethovens “Appassionata”. Im Finale fiel einmal mehr der transparent interpretierte scherzoartige Themenkomplex auf, der sich bei Nicholas Angelich immer weiter auffächerte. Figurenwerk-Aufschwünge und synkopierte Nonensprünge im Bass führten zu einer atemlos-rauschhaften Schluss-Coda. Als Zugabe interpretierte er noch ein chromatisch fein verziertes Prelude von Rachmaninow. Zum Abschluss war dann in einer mitreissenden Wiedergabe Igor Strawinskys berühmte Ballett-Suite “Der Feuervogel” aus dem Jahre 1919 zu hören. Die Handlung kreist um den Märchenprinzen Iwan, der durch eine Zauberfeder die verwunschenen Prinzessinnen aus der Gewalt des Dämons Kaschtschei befreit. Von diesem Geist war auch die geradezu stürmische Wiedergabe mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR unter der souveränen Leitung von Stephane Deneve geprägt. Das menschliche Element des Prinzen und der Prinzessinnen blitzte in diatonischer Thematik auf und die formstrenge Oboen-Kantilene des “Reigens” überzeugte hier noch mehr wie die schwermütige Berceuse. In dunklen, wie gelähmt schleichenden Klängen wurde in der Einleitung der verhexte Garten des Zauberers beschrieben, kleinste Motivfiguren zeichneten die Musiker mit Inspirationskraft nach. Wie eine Feuerflamme flatterte der Wundervogel heran, sprühte und funkelte bei jeder seiner Bewegungen mit glitzernden Orchesterklängen. Weihevolle und liturgische Bezirke erinnerten aber auch an das Vorbild Rimskij-Korssakoffs. Wilde chromatische Klangkombinationen wurden beim “Höllenanz des Zauberers Kaschtschei” präzis herausgearbeitet. Übereinandergeschichtete Rhythmen, rasante Taktwechsel und starke Ostinati wiesen dabei deutlich in die Zukunft von “Le sacre du printemps”. Vor allem das kunstvolle Prinzip der rhythmischen Variationen wurde blendend betont. Buntschillernde Farbspiele, kühle Logik und kluge Kontrolle zeichneten die Musizierweise des Orchesters aus. Das Intervall der übermäßigen Quart beziehungsweise der übermäßigen Quint erfuhr eine scharfe Akzentuierung. Zuletzt hätte man bei der großen Schluss-Steigerung sogar noch mehr Vitalität hervorzaubern können. Doch insgesamt war diese Interpretation wie aus einem Guss.
Alexander Walther