FEINE NACHBILDUNG DER MELODIE
Überzeugendes 3. Sinfoniekonzert “Wunder” des Staatsorchesters Stuttgart am 20. Januar 2014 in der Liederhalle/STUTTGART
Die Passacaglia stand als gewichtige musikalische Form an diesem Abend im Mittelpunkt des Konzerts mit dem fulminanten Staatsorchester Stuttgart unter der impulsiven Leitung von Kirill Karabits. Bei allen drei präsentierten Werken war sie stilvoll herauszuhören. Gleich zu Beginn überraschte das gut aufeinander abgestimmte Orchester bei den Variationen über ein Thema von Joseph Haydn von Johannes Brahms. Es handelt sich um eine Vorstudie zur Sinfonie, die Brahms dann später konzipierte. Wie sehr er sich als Meister kunstvoller thematischer Arbeit bereits in dieser Komposition zeigt, machte das Staatsorchester Stuttgart unter dem aus Kiew stammenden Dirigenten Kirill Karabits deutlich. Bis in die feinsten Verästelungen ihrer kammermusikalisch durchsichtigen Faktur war diese Partitur lebendig, deren innerer Zauber immer wieder betont wurde. Als Thema dominierte der Choral St. Antoni, den Haydn bereits in einem Divertimento verwendete. Die schöne Urform bildete hier den Kopf der Variationen, die jeweils ein Element, eine Umbildung oder Nachbildung der Melodie kunstvoll und facettenreich herausgriffen. Musikalisch wurde so alles bis in die stillen Tiefen ausgeleuchtet. Die acht gewaltigen Variationen wurden bei dieser robusten Wiedergabe von einer Schluss-Chaconne über dem abgewandelten Thema im Bass gekrönt. Und so triumphierten die satztechnischen Künste dieser Partitur immer mehr. Benjamin Brittens kurz vor dem Zweiten Weltkrieg entstandenes Konzert Nr. 1 in d-Moll für Violine und Orchester gilt als spieltechnisch extrem schwierig – und der hervorragende Geiger Kolja Blacher meisterte hier die extremen Höhenlagen wirklich ganz ausgezeichnet. Glänzendes tonsetzerisches Können paarte sich mit geschärftem Sinn für klangliche Feinheiten. Das vielsagende Motto “Wunder” passte dabei hervorragend gerade zu diesem Meisterwerk. Die Nähe zu Beethovens Violinkonzert zeigte sich schon beim einleitenden Quartenmotiv der Pauken. Ein ostinaes Element wies auf die spätere Passacaglia hin. Ein Totentanz im Mittelsatz und der Trauermarsch und Klagegesang im Finale wurden von Kolja Blachers intensivem Geigenspiel voller Magie und Intensität begleitet. Er lauschte den Klängen gleichsam nach, erfüllte die Variationenreihe mit enormer Explosivität und elektrisierenden Emotionen. Vor allem sein betörendes Vibrato-Spiel begeisterte das Publikum.
Zum Abschluss gefiel die monumentale Interpretation der vierten Sinfonie in e-Moll op. 98 von Johannes Brahms. Auch hierbei fiel wieder die große Nähe zu Beethoven auf. Thematische und harmonische Eigenheiten der Barockmusik wurden vom Staatsorchester Stuttgart unter der vitalen Leitung von Kirill Karabits präzis betont. Im Kopfsatz wuchs das Thema wie organisch aus der Terz heran, weil die Wiedergabe auf analytische Details großen Wert legte. Das fallende Intervall wurde zur Oktave vergrößert, was zu imponierenden dynamischen Steigerungen führte. Und das Thema wurde durch facettenreiche Intervallschritte abgerundet. Den passenden Kontrast bildete das ritterliche Seitenthema der Holzbläser. Das bestimmende Motiv tauchte in verschiedenen Abwandlungen in den Folgesätzen immer wieder auf, die wuchtige Coda führte den Kopfsatz zum stürmischen Abschluss. Etwas Altertümlich-Holzschnittartiges haftete dem zweiten Satz an, dessen balladenhafter Horn-Ton sich tief einprägte. Klarinetten und Streicher übernahmen das Thema. Eine sanft anschwellende Cello-Melodie fiel ebenfalls positiv auf. Dämonisch heitere Ausgelassenheit beherrschte den dritten Satz. Es war ein atemloses und ungebändigtes Treiben. Am besten gefiel jedoch die kompakt-wuchtige Wiedergabe des Finales, wo Brahms die Form der Sonate kunstvoll mit der Chaconne verbunden hat. Einunddreißigmal wiederholte sich mit unglaublicher Intensität das Thema der Bläser mit energischem Aufstieg. Immer breiter und leidenschaftlicher wurde dabei das Tempo unter der forschen Leitung von Kirill Karabits. Posaunen griffen mit feierlichen Klängen ein. Und mit harten Staccato-Klängen endete diese bemerkenswert geschlossene Interpretation.
Alexander Walther