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KARLSRUHE: DORNRÖSCHEN, DIE LETZTE ZARENTOCHTER. Ballett-Premiere

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Badisches Staatsballett Karlsruhe „DORNRÖSCHEN – DIE LETZTE ZARENTOCHTER“ 26.1. Premiere(Pr.16.11.13) –

Zwiespalt zwischen Märchen und Zeitgeschichte

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Bruna Andrade als Anastasia und Admill Kuyler als ihr geheimnisvoller Retter. Copyright: Jochen Klenk

Nach „Ein Sommernachtstraum“ und „Nussknacker“ ist es Karlsruhes Ballettdirektorin Prof. Birgit Keil gelungen eine dritte der abendfüllenden Arbeiten von Youri Vámos für ihre Compagnie zu gewinnen. Wie in den genannten Klassikern auch hat sich der ungarische Choreograph, der Anfang der 70er Jahre als Erster Solist unter John Cranko in München wesentliche Impulse für eine über das herkömmliche Gut- und Böse-Schema hinausreichende Sicht auf das klassische Ballett erhalten hatte, nicht mit der traditionellen Märchenhandlung begnügt und gemäß seiner Maxime, in einer Geschichte immer den Menschen und die Ursachen seines Handelns zu finden, die auch im Märchen von der Schlafenden Schönen im Kern existierende tiefere Schicht des Erwachsenwerdens eines Mädchens in ein psychologisch aufgeschlüsseltes Stück Zeitgeschichte zu übertragen.

Die enge Verbundenheit des Tschaikowsky-Balletts mit dem russischen Zarenhaus legitimiert dabei die Verlegung des Geschehens zur Zeit des französischen Sonnenkönigs in die Zeit der Romanows am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Aus Aurora wird Anastasia, die jüngste der Zarentöchter, die mit ihrer Familie im Jahr 1918 hingerichtet wurde, und deren Tod aufgrund einer ihr sehr ähnelnden Frau, die nach dem Krieg behauptet hatte Anastasia zu sein, jahrzehntelang angezweifelt wurde, bis die Ausgrabung der Leichen nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihren Tod endgültig bestätigte. Letztlich interessierte Vamos aber nicht die wahre Identität dieser Frau, sondern der psychologische Standpunkt eines Menschen, der sich aus traumatischen Erlebnissen in eine heile sorgenfreie Welt mit märchenhaften Zügen flüchtet und glaubt eine andere Person zu sein. Folglich gibt es in dieser Fassung, die 1993 zu Vamos Zeit in Basel ihre Uraufführung erlebte, eine Rahmenhandlung mit der falschen Anastasia, die im schwarzen Mantel und mit Mütze aus der dunkel verhüllten Bühne in Scheinwerferkreisen herausgeleuchtet wird, und die Flucht in die Traumwelt voller Erinnerungen, die den breit angelegten Festszenen, wie sie auch im Haus der Romanows stattgefunden haben könnten, und den herkömmlichen choreographischen Anlagen hinreichende Entfaltung ermöglicht. Aus den Feen werden Anastasias Schwestern, die ihr passend zur jeweiligen Musik symbolische Geschenke zu ihrem 10. Geburtstag überreichen. Sabrina Velloso tritt hier aufgrund ihrer Kleinwüchsigkeit als ganz und gar glaubwürdiges Mädchen mit spielerisch leichter und soubrettenhafter Spitzentechnik in Erscheinung. Zu den Geschenken gehört auch eine Katze, wodurch sich das köstliche Duett von Gestiefeltem Kater und Kätzchen aus dem ursprünglichen Hochzeitsakt unterbringen lässt, und ein Blauer Vogel, den Anastasia später freilässt und der im finalen Fest-Tableau mit Partnerin leibhaftig in Erscheinung tritt und so dem unverzichtbaren Kleinod dieses Pas de deux den gebührenden Raum gibt ( Moeka Katsuki + Ed Louzardo mit hinreichend geschmeidiger Virtuosität in den Beinen und Armen). Aus dem Prinzen, der in dieser Version keinen passenden nachvollziehbaren Platz mehr hat, wird der Unbekannte, der aus dem Bildnis des toten Zaren heraustritt und durchgehend ganz in Schwarz eine letztlich uneindeutige Gestalt aus Hoffnungsanker und Todesbote abgibt, an die sich die falsche Anastasia immer wieder klammert. Somit liegt auch immer ein Schatten der Bedrohung auf der herrschaftlichen Kulisse, mit farbenfroh ausgeleuchtetem Fest-Ambiente (Bühne und Kostüme: Michael Scott), das die Vereinigung der beiden im traditionellen Petipa-Pas de deux (ohne Coda) und finaler Apotheose andeutet, aber zuletzt die alt gewordene Anastasia mit ihrem „Retter“ im Dunkeln zurück lässt.

Die pausenlose Überblendung der beiden Ebenen Realität (mit Schattenspielen) und Traumwelt sorgt im ersten Teil noch für viel Spannung, nach der Pause zwingen die großzügig aufgebauten Divertissements der Tschaikowsky-Partitur trotz Auslassungen den Choreographen mehr und mehr zu einer Aneinanderreihung von häufig durch Applaus unterbrochenen Nummern, so dass diese Konzeption bei aller Schlüssigkeit den Zwiespalt hinterlässt, einem simpel gestrickten Märchenballett letztlich doch kein dramaturgisch gewichtiges Gerüst angepasst zu haben.

Ohne Zweifel ist dagegen Vamos Ausbau des klassischen Ballett-Vokabulars durch erweiterte, fast zeichenhafte Führung der Arme, ganz besonders deutlich in der zur Rettung durch den Unbekannten umfunktionierten Traumsequenz, eine große Bereicherung für die Aussagekraft des ganzen Stückes. Und auch die teils variierten Petipa-Originale in den Festszenen zeugen von Ideenreichtum und gleichzeitigem Einfühlungsvermögen, was aus musikalischen Gesichtspunkten tolerierbar ist.

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Glanzvolle Technik und unwiderstehliche Spielfreude – Pablo dos Santos als Alexei. Foto: Jochen Klenk

 Die Karlsruher Ballett-Compagnie ist bislang mit allen Herausforderungen fertig geworden, die Direktorin und ihre Berater wissen, welchen Anforderungen ihre Tänzerinnen und Tänzer gewachsen sind. In der Titelrolle überzeugt Bruna Andrade durch ihre frauliche Erscheinung, die in Auftreten und Tanz sowohl Kraft und Reife verströmt als auch über die notwendige Leichtigkeit für ihre zahlreichen Balance-Akte auf Spitze als auch zahlreiche Arabesquen verfügt. Das gefürchtete Adagio, zu dem hier drei statt der üblichen vier Adeligen mit der Überreichung einer Rose um sie werben, steht sie bis auf eine kurze Unsicherheit selbstsicher durch. Als Unbekannter ist Admill Kuyler der passend kühle und verschlossene, und dort wo es gefragt ist, auch zuneigungsvoll unterstützende Typ, der mit Fortdauer der Aufführung immer mehr an Sprung-Effektivität, körperlicher Mitteilsamkeit und Präsenz zulegt. Als Gesamtkunstwerk übertrumpft ihn jedoch der mit umwerfend gewinnender Ausstrahlung gesegnete und eine brillante und federnd mitreißende tänzerische Aktivität bietende Pablo dos Santos als Anastasias temperamentvoller Bruder Alexei. Kaum Profil gewinnen kann Andrey Shatalin als mysteriöser Wunderheiler Rasputin, der den als Kind schwächelnden Alexei scheinbar durch Zauberei wieder zu Bewusstsein bringt und heilt, zu kurz und wenig ausgeprägt ist sein Einsatz trotz bedrohlich schwarzer Gewandung mit Rauschebart und Kappe.

Das Ensemble hat aber in den Fest-Tableaus ausreichend Gelegenheit Linie, Synchronität, Haltung, aber auch beteiligte Spielfreude zu beweisen.

Die Badische Staatskapelle wurde an diesem Nachmittag von Steven Moore einigen Unstimmigkeiten in den Bläsern zum Trotz insgesamt mit großzügiger Kantabilität und teils passend auftrumpfender Manier durch Tschaikowskys melos-gesättigte Partitur gesteuert.

Alles in allem hat die Compagnie auch diesmal bewiesen, dass es seinem vor einem guten Jahr verliehenen Titel eines Staatsballetts würdig ist.                                         

  Udo Klebes

 

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