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BASEL: SCHNEEWITTCHEN von Heinz Holliger

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Modernes Musiktheater in Basel:

„Schneewittchen“ von Heinz Holliger (Vorstellung: 24. 2. 2014)

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Regisseur Achim Freyer bot dem Publikum opulente Bilder, aber auch zwei Schneewittchen – auf dem Steg vor dem Orchestergraben und auf der Bühne (Foto: Monika Rittershaus)

Anlässlich des 75. Geburtstags von Heinz Holliger brachte das Theater Basel eine Neuproduktion seiner Oper „Schneewittchen“, die 1998 in Zürich uraufgeführt wurde. Als Vorlage für sein Werk wählte der Komponist die gleichnamige, 1901 veröffentlichte  Erzählung des Dichters Robert Walser. „Dieser Dichter ist ein wahres Labyrinth und sein Werk völlig unauslotbar, weder zerred- noch erklärbar“, beschrieb Holliger einst seine Faszination für den Schriftstellerkollegen. „Dieses Schneewittchen ist ein Märchen über ein Märchen über ein Märchen…“

 Die Oper in fünf Szenen mit einem Prolog und einem Epilog, die in Basel erst ab 16 Jahren empfohlen wird, zeigt die leidvolle Sehnsucht Schneewittchens nach der Mutter und nach des Vaters Liebe, den von Neid erfüllten Tochterhass und das Begehren der Königin nach dem obszönen und servilen Jäger sowie das Verlangen des verwirrten Prinzen.  Nach vielen Streitereien und wildem Gerede finden am Schluss alle Figuren beschädigt und nur noch im Verdrängen, in der kollektiven Lüge, zusammen.

 Achim Freyer, der für Regie und bildnerische Gesamtkonzeption verantwortlich zeichnete (Kostüme: Amanda Freyer), inszenierte die Oper als sinnlichen Bilderrausch, wobei er seiner Liebe zum Zirkus und für Masken leidenschaftlich frönte – ohne Rücksicht auf die Sänger. Er bietet fürs Auge farbenprächtige, aber auch verwirrende Szenen und lässt viele Figuren – auch ein zweites Schneewittchen – im Zuschauerraum tänzelnd agieren. Die Königin schwebt fast immer im „Bühnenhimmel“, der Prinz schreitet zappelnd und rauchend daher und zieht einige Male ein Einhorn ohne Kopf über die Bühne, ein Statist tauscht ständig die Kopfbedeckung einer stummen Figur aus, viele mir unbekannte Märchengestalten tummeln sich auf den Brettern, auch Till Eulenspiegel, eigentlich eine Sagenfigur, verirrt sich dazu. Lange Zeit darf das Publikum rätseln, wer gerade singt, bis man erkennt, dass die Königin über allen schwebt, der König in einer überdimensionalen Ritterrüstung steckt und dass beide Schneewittchen abwechselnd singen. Dazu tauchen des Öfteren kleine Holzfiguren durch Luken oberhalb des Orchestergrabens auf, deren symbolhafter Sinn im Verborgenen bleibt – zumindest dem Rezensenten und seiner Umgebung, wie Gesten und Kopfschütteln von Zuschauern zeigten. Ein gelungener Gag war das leichte Schneetreiben auf der Bühne und im Publikumsraum (Videoprojektionen: Sebastian Hirn, Licht: Roland Edrich). Es war die Inszenierung eines Märchens, das als Oper alles andere als ein Märchen ist! 

 Umso bewundernswerter waren die Leistungen des Sängerensembles: Die Titelfigur wurde auf der Bühne von der finnischen Koloratursopranistin Anu Komsi gesungen, die alle Höhen ihrer Partie sicher meisterte. Meist zwischen Orchestergraben und Zuschauerraum agierte als zweites Schneewittchen (quasi spiegelverkehrt, wie auch ihr Name im Programmheft „gespiegelt“ geschrieben) die südkoreanische Sopranistin Esther Lee. Sie tänzelte elegant auf dem schmalen „Steg“ und war auch stimmlich auf der Höhe, beide Sängerinnen mussten ihre Rolle mit bunt bemalten Riesenmasken bewältigen.

 Etwas angenehmer hatte es die Mezzosopranistin Maria Riccarda Wesseling als Königin in ihrer roten, erotisch wirkenden Robe und spitzem Kegel als Kopfschmuck getroffen. Sie beeindruckte mit scharfer, fast bösartiger Stimme, die wunderbar zu ihrer Rolle als „böse“ Königin passte. Der amerikanische Bariton Christopher Bolduc gab der Figur des Jägers stimmlich Profil, der in der zweiten Szene seine Leidenschaft für die Königin ausleben kann.

 Mit seiner sonoren Stimme stattete der russische Bass Pavel Kudinov den König in Ritterrüstung aus, während der britische Tenor Mark Milhofer, auch bekannt durch seine reiche Konzerttätigkeit, die Figur des schmalbrüstigen Prinzen nicht nur stimmlich, sondern auch darstellerisch mit vielen Nuancen ausstattet.

 Es war schade, dass durch diese optisch sehr aufwendige und häufig überbordende  Inszenierung die musikalische Seite manchmal auf der Strecke blieb. Auf die oft äußerst zarten „märchenhaften“ Klänge des Komponisten nahm meines Erachtens der Regisseur wenig oder gar keine Rücksicht. Der „Blick“ auf die Partitur blieb dem Publikum durch die optischen Eindrücke, die zu schaffen man dem Maler und Regisseur Achim Freyer nicht absprechen kann, meist verstellt, auch wenn der Komponist Heinz Holliger als Dirigent des Sinfonieorchesters Basel gewiss sein Menschenmöglichstes tat. Manchmal half: Augen zu, Ohren auf! Und plötzlich konnte man die fein gesponnene, facettenreiche Musik genießen.

 Das Publikum zollte allen Mitwirkenden reichlich Beifall und bejubelte den Komponisten und Dirigenten, der sich am Schluss mit dem gesamten Orchester auf die Bühne begab. Extrastarken Applaus und einige Bravorufe gab es für die beiden Sängerinnen der Titelfigur, die mit sichtlicher Erleichterung ihre großen Masken abnahmen.

 Wieder einmal hat das Theater Basel ihren Mut, auch modernes Musiktheater auf die Bühne zu bringen, unter Beweis gestellt. Wenn auch das Ergebnis zwiespältig blieb, muss man der Intendanz ein Kompliment aussprechen.

 Udo Pacolt

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