Yolanda Auyanet (Norma). Foto: Martin Sigmund
Vincenzo Bellinis „Norma“ am 11.7.2019 in der Staatsoper/STUTTGART
Norma ist nicht Medea
Jossi Wieler und Sergio Morabito betonen in ihrer großräumigen Inszenierung von Bellinis „Norma“ die konsequente Wiederherstellung der Frauenherrschaft. In der Priesterin Norma, die ihren Göttern dient und dennoch nicht keusch leben will, zeichnet Bellini in glühenden Farben das aufwühlende Doppelleben einer extrem liebesfähigen Frau. Sie hat sich ihren Herrschaftsbereich aber auch wieder selbst angeeignet und ist mitsamt ihren Kindern in den Tempel eingezogen. Als geistliche Autorität gibt Norma ihrem unterdrückten Volk Orientierung. Gleichzeitig gibt es ein geheimes Liebeseinverständnis mit Pollione, das dieser bricht, als er sich rettungslos in Adalgisa verliebt. In ihrer Seelenqual vertraut diese der Oberpriesterin ihre Liebe an. In wilder Rache will Norma zuerst ihre und Polliones Kinder töten, was die Inszenierung in grellen Bildern einfängt. Bei dem Versuch, Adalgisa gewaltsam aus dem Tempel zu entführen, wird Pollione ergriffen. Norma befiehlt einen Holzstoß zu errichten für eine Priesterin, die ihr Land und ihre Götter verraten hat. Doch sie nennt nicht Adalgisas Namen, sondern ihren eigenen. Dann wird sie zur Hinrichtung geführt. Dies alles wird in der Inszenierung nur angedeutet (Bühne und Kostüme: Anna Viebrock; szenische Leitung der Wiederaufnahme: Anika Rutkofsky). Es gibt immer wieder Bezüge zur modernen Welt – vom Telefon bis zum Ausziehbett. Auch wenn mystische und metaphysische Momente bei dieser Interpretation weitgehend fehlen, ist die Personenregie umso glaubwürdiger. Man begreift vor allem in der überzeugenden Darstellung der ausgezeichneten spanischen Sopranistin Yolanda Auyanet, dass Norma die besondere Würde einer Göttin besitzt, während sie bei der Schauspielvorlage von Alexandre Soumet nur kriminalisiert wird. Gleichzeitig machen Jossi Wieler und Sergio Morabito deutlich, dass Norma nicht Medea ist. Ihre Rache ist nicht so gnadenlos, sie ist zu einem grenzenlosen Selbstopfer bereit, das das Volk zunächst erschüttert und dann umso wütender zurücklässt. Die Kraft und Macht der Massen-Rebellion sticht bei dieser Inszenierung in überaus mitreissender und atemloser Weise hervor. Unter der feurigen Leitung des jungen italienischen Dirigenten Giacomo Sagripanti musiziert das Staatsorchester Stuttgart mit Esprit und Grandezza, Bellinis Tonsprache spricht hier mit tausend Zungen, die die grenzenlosen menschlichen Leidenschaften höchst lebendig werden lassen. An den Seiteneingängen treten zudem die Blechbläser auf und geben der Inszenierung ein seltsames militärisches Gepräge. Man spürt dabei, wie stark dieses Werk beispielsweise Giuseppe Verdi beeinflusst haben muss. Den ekstatischen Aufschwung des Gebets von „Casta Diva“ lässt Yolanda Auyanet in leidenschaftlichen Kantilenen aufblühen – und in der Cabaletta beschwört
sie in höchst bewegender Weise ihren Ehebund mit Pollione. Den Gegensatz zwischen Gebet und Cabaletta zeichnet Yolanda Auyanet mit ebenmäßigem Timbre und bis ins Grenzenlose aufsteigenden Spitzentönen nach. Der Zauber des Belcanto offenbart sich jedoch auch bei der berührenden Verkörperung der Adalgisa durch die überaus emotional agierende und exzellent singende Diana Haller. Verminderte Intervalle und chromatische Durchgänge der Partitur werden dann in den höchsten Verzweiflungsmomenten in packender Weise umgesetzt. Eine zentrale Rolle spielt dabei der hervorragende Staatsopernchor Stuttgart (Einstudierung: Bernhard Moncado), der die Bühne immer wieder in geradezu umfassender Weise beherrscht. Der strahlkräftige Tenor Massimo Giordano beschwört als Pollione seine seelische Zerrissenheit immer glaubwürdiger, um dann am Schluss die überlebensgroße Präsenz dieser Figur zu betonen
Massimo Giordano (Pollione). Foto: Martin Sigmund
Giacomo Sagripanti besitzt ein besonderes Gespür für die überhitzte Tonsprache Bellinis, die Gesangskultur und Virtuosität der Sänger wird dadurch in erheblicher Weise verstärkt und beschleunigt. Liang Li stellt Oroveso als Oberhaupt der Druiden mit sonorem Bass dar, während Regina Friedek als Normas Vertraute Clotilde und Daniel Kluge als Polliones Freund Flavio interessante Rollenporträts liefern. Als Normas und Polliones Kinder sind ferner Katarina Tomic und Konstantin Vogel zu sehen.
Jubel, frenetischer Beifall.
Alexander Walther