Berlin/ Deutsches Theater: „WASSA SCHELESNOWA“ von Maxim Gorki, B-Premiere, 17.5.2014
Wen soll man hier mehr bedauern, die überaus harte, völlig überforderte Mutter Wassa oder die von ihr drangsalierten, sich ungeliebt fühlenden, ungeratenen und geldgierigen Kinder? Die sich zum Frühstück mit einem Liedchen (Musik Michael Verhovec) um sie scharen und doch nur das Erbe im Sinn haben.
Wassa, eine Frau mit Kampfgeist und Verstand, will das schon pleite gegangene Familienunternehmen – hier eine Spedition – irgendwie doch noch retten und das nicht zum ersten Mal. Eine Frau, die sich bereits kurz nach der Eheschließung und hochschwanger mit aller Kraft für das Unternehmen des Gatten einsetzte, damals mit Erfolg, nun aber ohne.
Sie allein kämpft und ackert nun erneut, ganz im Gegensatz zu all’ den schwadronierenden Faulenzern und mental Geschädigten um sie herum. Sie wirkt müde und will es nicht zeigen, kocht Tee und schüttet immer wieder Wasser in sich hinein. Doch sie weiß ziemlich genau, dass diesmal all’ ihr verzweifelter Einsatz vergeblich ist. Schon trägt sie eine bis zuletzt versteckte Pistole bei sich.
Corinna Harfouch ist diese Wassa Schelesnowa, und ihretwegen schaue ich mir im Deutschen Theater das Gorki-Stück von 1910 (in der Fassung von Sonja Anders) an, muss aber staunen, wie nahe und plausibel es Regisseur Stephan Kimmig an die Gegenwart herangeführt hat.
Der von Gorki angeklagte Kapitalismus lebt ja munter weiter. Aber ist es andererseits verwerflich, eine Firma, die die Familie ernährt, retten zu wollen? Auch die überforderten Mütter, die daheim „den Laden schmeißen“, die Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen versuchen, sind überall zu finden. Gorki, ein Sohn seiner Zeit, prangert Wassas Verhalten an. Kimmig aber, der Heutige, malt nicht schwarz-weiß.
Corinna Harfouch, die Zarte mit dem harten Kern, ist diese rücksichtslos gewordene Firmenchefin. Leise, fast distanziert und mit sparsamen Gesten spielt sie die Rolle. Nur angeblich hat sie alles im Griff, zeigt aber in ihrem Gesichtsausdruck und noch mehr mit ihren nervösen Händen, dass die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht sind.
Dennoch scheucht sie weiterhin alle umher. Sie sollen arbeiten, aber bitte was, so müssen sich die Zuschauer eigentlich fragen. Wassas Kinder haben vermutlich keine Ausbildung, leben traditionsgemäß von der Substanz und sehen keinerlei Notwendigkeit sich anzustrengen.
„Uns geht es doch gut,“ sagt Semjon, Wassas fetter Sohn (Christoph Franken), und löffelt die Suppe gleich aus dem Kochtopf. Ein andermal bezeichnet er die Familie als Schlangengrube und seine Mutter, sie anzischelnd, als Oberschlange. Hat ihm die Mutterliebe beim Aufwachsen gefehlt? Wahrscheinlich, doch ein Typ zum Liebhaben ist der nicht.
Diese familiäre Kühlschrankatmosphäre vermittelt schon die sparsam möblierte Bühne (von Katja Haß). Dieses Haus ist kein Ort für Liebe und Mitleid. Wassas Mann stirbt monatelang vor sich hin, ohne dass sie nach ihm schaut. Der Kranke schluckt, wie Geschäftsführer Michailo Wassilijew (Bernd Stempel) anmerkt, Medizin in gefährlichen Dosen gegen hohen Blutdruck und den Sexualtrieb. Hat er sich beim Herumhuren infiziert?
Wie scheinheilig Michailos Besorgnis ist, verrät sein Rat an Wassas jungen Assistenten Alexander (Marcel Kohler), er solle die Dosierung weiter erhöhen, um das Ableben des Kranken zu beschleunigen. „Wer nicht sündigt, kann nicht bereuen, und wer nicht bereut, kann auch nicht erlöst werden,“ legt Gorki dem Geschäftsführer als Kirchenlogik in den Mund. Alexander aber weigert sich und mahnt bei Wassa Investitionen an. Doch dafür hat sie kein Geld..
Einen scheint Wassa wirklich zu lieben: ihren trunksüchtigen, zu Gewaltausbrüchen neigenden Sohn Pawel, intensiv gespielt von Alexander Khuon. Zunächst latscht er in der Turnhose (Kostüme Anja Rabes) durchs Haus und hat durch den Suff offensichtlich nicht mehr „alle Tassen im Schrank“.
Das tatsächliche Geschirr zertöppert er in einem Wutanfall auf dem Boden. Die schmale Mutter ringt mit dem sehr viel kräftigeren Sohn, versucht ihn zu besänftigen, zieht den großen Mann dann auf ihren Schoß. Nun wird er ruhig. „Was war der doch für ein hübsches Kind,“ flüstert sie leise.
Neben den missratenen, sehr unsympathisch wirkenden jungen Männern machen auch die Mädels keine gute Figur. Da ist die dickliche, von Sozialismus und Selbstbestimmung labernde Natalja, Semjons Frau (Lisa Hrdina), eine Nervensäge, die ebenfalls keinen Finger krumm macht und nur das Fehlen der Frühstückseier bemängelt. „Die kleine Rosa Luxemburg,“ meint Wassa ironisch.
Da ist außerdem die zierliche Ljudmilla (Katharina Marie Schubert), Pawels Frau, die ihm nur ihre Haut dalassen, aber keine Liebe schenken will. Die davon schwärmt, wie sie zusammen mit Wassa einen Garten angelegt hat und Bücher über Gartenkunde liest (momentan in gewissen Kreisen sehr „in“).
Brutal will Pawel sie zur Liebe zwingen, doch sie entwischt ihm und amüsiert sich frei wie ein Vögelchen lieber mit anderen Männern, u.a. mit Prochor (Michael Goldberg), dem Bruder von Wassas Mann. Pawel und Semjon prügeln ihn wegen seiner allzu schmierigen Avancen schließlich tot. Eine wirklich feine Familie.
In die ist aber Wassas Tochter Anna (Franziska Machens) nach ihrer gescheiterten Ehe zurückgekehrt und gibt sich als herzliche Verbündete der Mutter. Sie hat bereits vorab einen Anteil am Erbe erhalten, als noch Geld da war, was die Söhne neidisch macht. Nach Vaters Tod wollen auch sie ausbezahlt werden, können aber – wie Wassa kühl anmerkt – nur noch die Schulden erben. Sie empören sich, Wassa schmeißt sie aus dem Haus, und Anna fragt mit versteckter Gier: „Mutter, du hast doch sicher noch was in der Hinterhand?“
Da verlassen Wassa die Kräfte, sie würgt, schwankt, schüttet wie von Sinnen Wasser in sich und über sich, zieht die Pistole aus dem Kleid und legt sie auf den Tisch. Kein Schuss fällt. Corinna Harfouch wankt nun wie Wassa, die vom Schicksal Getroffene, nach fast zweistündiger Präsenz von der Bühne. Eine atemberaubende Schauspielleistung, die in ihrer stillen Intensität alle anderen in den Schatten stellt.
Starker Beifall für alle, auch fürs Regieteam.
Ursula Wiegand
Weitere Termine: 22., 24., 25. Mai sowie 16., 23., und 24. Juni und 2. Juli