St. Petersburg: Weiße Nächte am Mariinsky-Theater – Nozze di Figaro (7.6.) / Götterdämmerung (8.6.)
In dem wahrlich an Festspielen nicht armen Jahresspielplan am Mariinsky-Theater bildet das Festival „Stars der Weißen Nächte“ den Höhepunkt der Saison, zum zweiten Mal an allen drei Spielstätten zugleich: im historischen Theater, auf der vor einem Jahr eröffneten neuen Bühne sowie in der Konzerthalle. In diesem, dieses Jahr vom 28. Mai bis zum 31. Juli dauernden Festival werden noch einmal alle Kräfte gebündelt; mit wenigen kurzzeitigen Ausflügen zu anderen Festivals wie in Ravenna, Mikkeli oder Baden-Baden steht VALERY GERGIEV, der umtriebige Motor dieses Theaters, nahezu ununterbrochen am Pult, u. a. von zwei Mammut-Werken des Opernrepertoires, Berlioz „Les Troyens“ und Prokofievs „Krieg und Frieden“, die in Neuproduktionen bzw. Wiederaufnahmen auf die Bühne des neuen Hauses gehievt wurden bzw. noch werden.
Ein Wochenend-Ausflug mit Freunden von Gergievs Festival im finnischen Mikkeli zeigte Stärken und Schwächen des Mariinsky-Theaters auf. Zu den Minuspunkten gehört zweifellos die ungemein späte Veröffentlichung des Programms, das diesmal erst wenige Wochen vor Beginn des Festivals bekannt gegeben wurde. Hotels gerade zu dieser Zeit sollten jedoch Monate im Voraus gebucht werden, sonst sind sie fast unbezahlbar. Also heißt es, zu nehmen, was an diesem lange voraus gebuchten Wochenende geboten wird. In unserem Fall bedeutete dies am Samstag die Wahl zwischen dem Minkus-Ballett „Don Quixote“ (M I), Wagners „Siegfried“ (M II) und Mozarts „Nozze di Figaro“ (M III), am Sonntag wieder „Don Quixote“, „Götterdämmerung“ sowie in der Konzerthalle einem erst wenige Tage zuvor angesetzten Konzert mit dem Far East Symphony Orchestra.
Meine Samstag-Wahl fiel auf die Mozart-Oper, die szenisch in der Konzerthalle in russischer Sprache gegeben wurde, somit mehr interessant für ein russisches als für das übliche Touristen-Publikum. Damit leistet sich das Mariinsky-Theater den Luxus, zwei Produktionen derselben Oper auf dem Spielplan zu haben, Yuri Alexandrovs Inszenierung aus dem Jahre 1998 im alten Haus in italienischer Sprache und ALEXANDER PETROVs Produktion, die 2009 in der Konzerthalle herauskam. Sie fällt weniger klamottig aus als die seines Kollegen, enthält viele slapstick-artige Einfälle, ohne dem Werk Gewalt anzutun. Wenn diese Inszenierung zwar ganz amüsant, aber nicht unbedingt sehenswert war, so war sie doch in höchstem Maße hörenswert. Dies lag zu allererst an der Leitung des jungen ZAURBEK GUGKAEV, der mit dem „Rest-Orchester“ (die Kollegen spielten entweder „Don Quixote“ oder „Siegfried“) den Sängern des bestmöglichen Teppich unterlegte, sehr sängerfreundliche Tempi wählte und Bühne und Graben trotz des quirligen Spiels jederzeit zusammen hielt. Eine Leistung, die Appetit auf Mehr machte.
Aus dem insgesamt guten Ensemble möchte ich die Aufmerksamkeit auf zwei Sänger lenken, die meiner Meinung nach ihre Rollen auf jeder großen Bühne verkörpern können: das Dienerpaar ELEONORA VINDAU (Susanna) und VADIM KRAVETS (Figaro). Die junge Ukrainerin besitzt einen bildschönen lyrischen Mozart-Sopran, ideal für alle Rollen dieses Repertoires (Ilia, Servilia, Pamina). In der italienisch sprachigen Figaro-Produktion im historischen Haus singt sie bereits Contessa – eine Entscheidung, die ich nicht sehr umsichtig finde. Natürlich erlaubt ihre hervorragende Technik ihr, die Contessa zu singen, aber diese Rolle würde andere nach sich ziehen, für die die Zeit noch nicht reif ist. Als Susanna ist Eleonora Vindau perfekt!!! Contessa kann warten!
Eleonora Vindau als Susanna (Foto: Manninen).
Auch Vadim Kravets ist mit dem Figaro nun „angekommen“ und hat damit „seine“ Rolle gefunden. Als ich ihn vor 10 Jahren bei einem Wettbewerb hörte, sah er sich als dramatischen Bass mit Partien wie Igor, Boris und Filippo. Am Mariinsky-Theater wurde er sogar als „Siegfried“-Wanderer eingesetzt, doch wurde dies umgehend korrigiert. Jetzt, figürlich deutlich schlanker geworden, ist er mit seinem fülligen, doch jederzeit agilen Bass-Bariton ein stimmlich idealer spielfreudiger Figaro. Was zu großer Ehrgeiz aus einem viel versprechenden Material machen kann, zeigt das Beispiel der Contessa von YEKATERINA SOLOVYOVA. Nach einem verheißungsvollen Beginn vor nunmehr 14 Jahren (ich erinnere eine traumhaft schön gesungene Mimi-Arie aus dem 3. Akt) wagte sie sich zu früh an zu große Partien, für die ihr eigentlich fragiles Material nicht geeignet war. Folge: heute eine Durchschnittsstimme mit unsteter Tongebung und Intonationsproblemen (1. Arie). SERGEI ROMANOV hörte ich noch nie so gut wie als Graf, und die akustischen Verhältnisse kamen seinem im großen Haus nicht so volumenreichen Bariton sehr entgegen. So mühelos wie Romanov singt nicht jeder Graf die große Arie! Herausheben möchte ich noch die hervorragende Marcellina von SVETLANA KISELYOVA, bei deren Leistung ich bedauerte, dass wie üblich ihre Arie im 4. Akt gestrichen war. Die anderen Mitwirkenden hielten gutes Niveau, ohne die herausragenden Leistungen der Vorgenannten zu erreichen: YEKATERINA KRAPIVINA (Cherubino), MARINA ALESHONKOVA (Barbarina), NIKOLAI KAMENSKY (Bartolo), ANDREI ZORIN (Basilio), NIKOLAI GASSIEV (Curzio) und ANTON PERMINOV (Antonio). Fazit: Auch für Nicht-Russen eine vergnügliche Vorstellung, die ich jedem empfehlen möchte, der die Neva-Metropole besucht.
Am Sonntag (8.6.) stand Wagners „Götterdämmerung“ auf dem Programm, seit dem Umzug ins neue Haus zum zweiten Mal als Abschluss des Ring-Zyklus gegeben. Die Leistung des Orchester ist nur mit den höchsten Superlativen zu preisen: ein Spiel von derartiger Klangschönheit und Wucht in allen Gruppen kann heute dem Vergleich mit den besten Orchestern der Welt standhalten. Phänomenal! Dem adäquat VALERY GERGIEVs Interpretation, die ich den größten der Vergangenheit an die Seite stellen möchte. Großbögig im Aufbau des Werks, war sein 1. Aufzug mit einer Dauer von 2 Stunden 5 Minuten ungewöhnlich breit (die beiden anderen Aufzüge hatten eher normale Tempi), doch er war jederzeit in der Lage, diese Zeitmaße mit Leben zu erfüllen. Grandios!
Diese mächtige Orchesterleitung schien die Sänger förmlich zu überfluten. War es Konzeption, die Stimmen als bloße Farben im Klang zu empfinden? Oder war der Wechsel der Produktion vom alten ins neue Haus akustisch noch nicht voll gelungen? Jedenfalls hatte ich den Eindruck, dass die Sänger nicht mit dem ansonsten von ihnen gewohnten Volumen über das Orchester kamen. Ûber diese Produktion dieses „kaukasischen“ Rings hatte ich schon vor zwei Jahren geschrieben; nach wie vor vorherrschend der Eindruck einer „Regie freien Zone“. Keineswegs ein Anhänger des sog. Regietheaters, hätte ich mir bei dieser Produktion doch irgendeine Art von Regie gewünscht.
Vokal zeigte diese Aufführung Stärken, aber vor allem Schwächen des derzeitigen Mariinsky-Ensembles auf. Mit diesen Künstlern (Nikitin ausgenommen) kann ich mir nicht vorstellen, dass eine CD-Aufnahme Aussicht auf Erfolg hätte. Nach wie vor ein Ärgernis war die mangelnde Textverständlichkeit der Sänger. Mit Ausnahme von YEVGENY NIKITIN (Gunther) und MIKHAIL PETRENKO (Hagen), die beide Sprachlehrer in Deutschland haben/hatten, bewegte sich die Textverständlichkeit im üblichen Mariinsky-Nirwana, von noch angehend (Siegfried) bis total unverständlich (Waltraute). Hier muss dringend nachgebessert werden. Nikitin mit seinem weichen, aber auch großvolumigen Bassbariton war auch der einzige Sänger, den ich mir auf Bühnen des Westens in diesen Rollen vorstellen kann. Dem Hagen Petrenkos fehlt es gemäß meinem Rollenverständnis an der richtigen Farbe und Größe für seine Partie. LARISA GOGOLEVSKAYAs „Röhre“ mit unschön herab gedrückter Bruststimme machte das Hören ihrer Brünnhilde nicht zu einem Vergnügen, ebenso wie bei YEKATERINA SHIMANOVICHs weitem Vibrato die richtige Tonhöhe nur zu erahnen war (Gutrune) und OLGA SAVOVAs Waltraute bei guter stimmlicher Leistung total unverständlich blieb. Trotz verquollener Tongebung war VIKTOR LUTSYUKs Siegfried akzeptabel, ebenso wie seine Aussprache, bei der man jedoch auch seine Fehler gut hörte („Brünnhilde bietet mir Grüß“!). Mit knarzigem Bariton war EDEM UMEROV Alberich. Die drei Nornen waren Veteraninnen des Theaters anvertraut (ELENA VITMAN, SVETLANA VOLKOVA, TATIANA KRAVTSOVA), bei den Rheintöchtern deklassierte die schönstimmige ZHANNA DOMBROVSKAYA ihre Kolleginnen IRINA VASILIEVA und NADEZHDA SERDYUK. Will das Mariinsky-Theater mit seinem „Ring“ international konkurrenzfähig sein, ist dringend eine Blutauffrischung vonnöten. Die Verpflichtung von Gästen für diese Produktion (Michael Kupfer und Vitaly Kowalyow als Rheingold- bzw. Walküre-Wotan, Elena Pankratova als Sieglinde, Mikhail Vekua als Jung-Siegfried) lässt den Schluss zu, dass sich die Theaterleitung dieser Problematik bewusst ist. Stimmliche Defizite dieser Art mögen bei einem internationalen Touristen-Publikum, das St. Petersburg besucht, noch angehen, bei Gastspielen im Ausland (im November gastiert man mit dem „Ring“ in Birmingham) sind sie unakzeptabel und können die Reputation des Mariinsky-Theaters beschädigen.
Sune Manninen