Usedomer Musikfestival vom 20.9.-11.10 mit animierender Eröffnung, 23.09.2014
von Ursula Wiegand
Usedom, ein Flügel am Strand, Foto Ursula Wiegand
Nahe der Seebrücke vom Ostseebad Ahlbeck muss ich plötzlich schmunzeln. Da steht doch tatsächlich ein Flügel am Strand, doch kein Pianist betätigt die Tasten. Ist auch nicht nötig. Hier machen die Wellen Musik für die vielen, die morgens, mittags und abends am Ostseeufer entlang wandern und begleiten auf ihre Weise das noch bis zum 11. Oktober dauernde 21. Usedomer Musikfestival.
Ostseebad Ahlbeck mit Seebrücke, Foto Ursula Wiegand
Am 20. September, dem Start des Festivals, klettert das Thermometer auf dieser Sonneninsel auf rund 25 Grad Celsius. Einige baden, andere stapfen mit nackten Füßen durchs Wasser. Die größeren Wellen klingen für mich wie Celli, die kleinen antworten mit verschmitztem Pizzicato. Am Abend bietet solches und noch weit mehr das Eröffnungskonzert mit dem Baltic Sea Youth Philharmonic unter Kristjan Järvi in Peenemünde.
Peenemünde, Eingang zum Turbinenwerk, Foto Ursula Wiegand
Spielort ist die Turbinenhalle des Kraftwerks der ehemaligen Heeresversuchsanstalt. Furcht erregend ragen noch immer die Backsteinbauten in den nachtdunklen Himmel. In diesem Komplex wurde die V2 entwickelt, hier haben Gefangene und Strafarbeiter für Hitler-Deutschland geschuftet.
Auch zahlreiche Menschen aus Polen, dem diesjährigen Partnerland des Usedomer Musikfestivals. Doch aus einstigen Feinden sind inzwischen Freunde geworden, was fast einem Wunder gleichkommt. Friedlich teilen sie sich nun diese Insel. Die musikalischen Verbindungen zwischen beiden Ländern bestehen jedoch seit Jahrhunderten, sind aber vielfach in Vergessenheit geraten. Nur Chopin ist weltweit bekannt. Dass andere polnische Komponisten eine Wieder- oder Neuentdeckung verdienen, beweist dieses Musikfestival in rund 40 Konzerten. „Polens Musikerbe vor, nach und mit Chopin“, lautet das Motto.
Diesen Faden greift Kristjan Järvi sofort auf. Wie stets haben sich junge Talente aus den Ostseeländern in Wettbewerben für die Baltic Sea Youth Philharmonic qualifiziert und musizieren so gekonnt und homogen, als spielten sie schon lange zusammen.
Kristjan Järvi beim Eröffnungskonzert, Foto Geert Maciejewski
Zweifellos ist dieses Ergebnis Kristjan Järvi zu verdanken. Der kann junge Menschen begeistern und das Beste aus ihnen herausholen. Der hat selbst die Musik im Blut, von den Zehen bis zu den Haarspitzen, ist ein „natural dancer“ auf dem Podium, da können die jungen Leute gar nicht aus dem Rhythmus fallen. Allen gibt er präzise Zeichen und zumeist mit einem Lächeln im Gesicht. Musik macht Spaß, das ist ihm deutlich anzumerken. Wer das noch nicht verinnerlicht hat, kann es bei diesem Festival lernen.
Als Auftakt wählt Kristjan Järvi „Orawa“ von Wojciech Kilar, der die Musik für mehrere, international bekannte Filme komponiert hat. Mit Orawa bezieht er sich auf die Góralen, ein Bergvolk in der Tatra-Region, das seine eigene Musikkultur bewahrt hat. Kilar mischt Elegant-Tänzerisches mit Folkloreklängen. Mal steht der „Bolero“ einige Takte lang Pate, verebbt aber wieder ins Spielerische. Der Ruf „Hei“ beendet das kurze, recht effektvolle Stück.
Jan Lisiecki spielt Grieg, Foto Peter Adamik
Danach aber hämmert der 19jährige Wunderpianist Jan Lisiecki die herabstürzenden Kaskaden von Edvard Griegs „Konzert für Klavier und Orchester a-Moll“ op.16 dermaßen gekonnt in die Tasten, das alle sofort elektrisiert sind. Ebenso perfekt gelingen ihm die blitzschnellen Läufe. Der bereits weltweit gefragte Tastenlöwe hat die Musik jedoch nicht nur in den Fingern, sondern auch in Herz und Hirn, wie sich spätestens im Adagio hören lässt. In die Naturverbundenheit Griegs kann sich der in Kanada beheimatete Pole hörbar einfühlen und bringt eine insgesamt erstaunlich reife Leistung. Der – dazu noch groß, schlank und blond – müsste die Jugend in Scharen in die Konzertsäle locken können.
Den Abschluss bildet die „Sinfonie Nr. 2 D-Dur“ op.73, die Johannes Brahms 1877 in nur wenigen Monaten komponierte, ganz im Gegensatz zur Nr. 1 in c-Moll, an der er 14 Jahre gearbeitet hatte. Dur statt Moll, Zupacken statt Zögern – so kommt uns ein selbstbewusst Gewordener entgegen, der sich seines Könnens sicher war. Vielleicht von Järvi als Lebensleitschnur für die jungen Musiker ausgewählt und von ihm auf dem Podium in einer regelrechten Choreografie zelebriert. Welch hohe Konzentration dieses Werk erfordert, ist den jungen Leuten anzumerken, doch sie meistern ihre Aufgabe bestens und dürfen dann zusammen mit ihrem „spiritus rector“ bei den drei Zugaben explodieren.
Von denen ist die von Daniel Schnyder verjazzte Händel-Wassermusik-Ouvertüre ein besonderer Clou, und so wird dieses Eröffnungskonzert keine heilige Handlung, sondern ein Riesenspaß und an diesem denkwürdigen Ort zurecht mit tosendem Beifall bedacht. „Schwerter zu Flugscharen“ – mit Hilfe der Musik.
Kristjan Järvi nach dem Eröffnungskonzert, Foto Ursula Wiegand
Dass auch zündende Zugaben gut geprobt werden müssen, liegt auf der Hand. „Erst seit Montag spielen sie zusammen,“ betont Järvi nach dem Konzert im legeren Ringelhemd. Ein Miteinander junger Musiker aus mehreren Ländern in knapp einer Woche. Hut ab!
Liepe, St. Johannes Kirche von 1216, Foto Ursula Wiegand
Beim Konzert „Junge Stimmen der Ostsee“ am 21. September begegnen wir Daniel Schnyder in persona, dem Komponisten und Schalk mit dem Saxofon. Tatort ist die Evangelische Kirche in Liepe von 1216, vermutlich die älteste auf Usedom.
Junge Stimmen der Ostsee, Foto Peter Adamik
Zusammen mit dem Norweger Jan Bjøranger, Violine, und dem US-Italiener Paul Cortese, Bratsche, bringt der Schweizer Schnyder mit Arseniy Shkaptsov aus Russland (Fagott), Dominika Sitarz (Violine) und Alicja Kozak (Cello) aus Polen sowie Arta Abaronina aus Lettland (Kontrabass) die Kirchenbänke beinahe zum Swingen.
Bei der Vivaldi-Arie aus der Oper Griselda könnten die Tränen fließen. „Summertime“ von George Gershwin holt den blauen Himmel ins Feldstein-Gotteshaus, während Schnyders „Wedding-Song“ nach anfänglichen Disputen eine stürmische Ehe ankündigt.
Arsenjy Shkaptsov jazzt mit seinem Fagott, Foto Ursula Wiegand
Dass sich auch ein Fagott zum Jazzen eignet, beweist Arseniy Shkaptsov. Höhepunkt wird jedoch die gecoverte Carmen-Suite von George Bizet. Da könnte ich laut aufjuchzen vor Vergnügen, obwohl die Arme bei Schnyders Version zuletzt sogar zwei Messestiche erdulden muss. Musik – wiederum ein großer Spaß. Schnyders jüngste Oper „Abraham“ wird übrigens im November 2014 in Düsseldorf aufgeführt, die nächste – „Charlie Parker’s Yardbird“ hat im Juni 2015 in der Philadelphia Opera Premiere.
Krummin, Polnischer Barock, Foto Ursula Wiegand
Nun aber anzunehmen, beim Usedomer Musikfestival würde nur auf hohem Niveau musikalisch geblödelt, wäre ein grober Fehler. Schon am gleichen Abend begeistert das „Spezialensemble des Breslauer Barockorchesters“ unter Andrzej Kosendiak in der Kirche von Krummin mit „König des Polnischen Barock“.
Gemeint ist der „polnische Händel“ Grzegorz Gerwazy Gorczycki, der von 1694-1734 an der Wawelkathedrale im damals königlichen Krakau wirkte und dennoch in Vergessenheit geriet. Sein „Conductus Funebris“ (ein Totengedenken) und das „Completorum“, ein umfängliches Gotteslob mit dem stets aufwändig auskomponierten Schlussvers „Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto…“zeigt, dass es höchste Zeit ist, diese meisterhafte und berührende Musik auch in unsere Konzertsäle zu holen.
Jerzy Butryn, Bass, beim Polnischen Barock, Foto Ursula Wiegand
Hier wird sie von überzeugenden Instrumentalisten und Sängern aufs Schönste dargeboten.
Großartig harmonieren die Stimmen des Gesangsquartetts. Gleich neben mir singt Jerzy Butryn mit seinem auch in der Tiefe klangreichem Bass. Maciej Gocman (Tenor) und Piotr Lykowski (Countertenor) schließen sich an.
Aldona Bartnik, Sopran, Polnischer Barock, Foto Ursula Wiegand
Innig und mit leuchtendem Sopran gestaltet Aldona Bartnik ihre Partie. Ein schließlich intensiv bejubeltes Erlebnis.
Thematisiert wird außerdem der 75. Jahrestag von Hitlers Einfall in Polen (am 1. September 1939). Doch aus Termingründen muss ich leider auf das Gedenken an Wladislaw Spilman verzichten, den Pianisten und Komponisten, der als einziger seiner Familie das Warschauer Ghetto überlebte. Roman Polanski hat ihm den Film „Der Pianist“ gewidmet.
Ebenfalls entgeht mir das Festkonzert zum Tag der Deutschen Einheit mit der Kammersymphonie Berlin ebenso wie nächtliche, 90minütige Feuerwerk zwischen Deutschland und Polen entlang der 42 km langen Küste. Auch die musikalische Rundfahrt über die polnische Schwesterninsel Wollin ist nicht machbar.
Und wie gerne würde ich das Abschlusskonzert am 11. Oktober in Peenemünde hören mit der Sinfonia Varsovia unter der Leitung des weltbekannten, nun 80jährigen Musikerneuerers Krzysztof Pendererecki. Wer Ohren hat zu hören, der komme.
Seebrücke Ahlbeck mit Möwen. Foto: Ursula Wiegand
Mir bleibt nur noch ein Vormittag. Der Wind hat aufgefrischt, die Wellen brummen wie Kontrabässe, die Möwen kreischen dissonant. Ab Ahlbeck tippele ich auf der gepflasterten insgesamt 12 km langen Europa-Promenade, eröffnet im August 2011, bis nach Świnoujście (Swinemünde). Kein Grenzsoldat weit und breit.
Europa-Promenade nach Swinemünde, Foto Ursula Wiegand
Ein freundlicher Herr aus Kattowitz und eine nette Studentin aus Breslau, beide auch nicht ortskundig, helfen mir, die König Christus Kirche (heutiges Aussehen von 1881-91) zu finden, wo am 2. Oktober das Konzert „Deutsch, Polnisch, Romantisch“ stattfindet.
Swinemünde, König Christus Kirche, Foto Ursula Wiegand
Infos über das weitere Programm unter www.usedomer-musikfestival.de . Shuttle-Service für abgelegene Spielorte bei der Kartenbestellung mit anmelden.
Anreise per Bahn über Züssow oder Swinemünde. Ab Berlin fährt der Berliner Linienbus dreimal wöchentlich nach Heringsdorf Bahnhof (www.berlinerlinienbus.de) zum Preis von 28 Euro (Rentner: 22 Euro) pro Strecke. Flüge mit Germanwings z.B. ab Frankfurt und Köln-Bonn nach Heringsdorf.
(U.W.)