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ESSEN: MANON LESCAUT – die Herheim-Inszenierung nun auch in Essen

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ESSEN: MANON LESCAUT. Premiere am 4. Oktober

 Die STEFAN-HERHEIM-Inszenierung von „Manon Lescaut“, eine Koproduktion mit Graz und Dresden (dort stand übrigens Christian Thielemann am Pult) hat nun auch das Aalto Musiktheater erreicht. Damit erlebt man vor Ort die dritte Produktion des norwegischen Regisseurs nach seinen großartigen „Puritani“ und dem gleichfalls hinreißenden „Don Giovanni“.

 Puccinis „Manon Lescaut“ wird gemeinhin als veristisches Leidensdrama mit Rokoko-Applikationen erzählt. Eine solche Verbrämung kennzeichnet in Essen die Kostüme von GESINE VÖLLM durchaus, aber sie zitieren immer wieder auch die Entstehungszeit der Oper. Herheim seinerseits verquickt die historische Bühnenhandlung mit Gegebenheiten der Werkentstehung.

Das Intermezzo „Die Reise nach Le Havre“ ertönt sogleich zu Beginn, eine klangschmerzliche Introduktion vor dem lebhaft heiteren Originalbeginn der Oper. Zu dieser Musik wird ein Mann aus der Szene heraus geleuchtet, den man zunächst als gealterten Des Grieux (wie in Jules Massenets „Portrait de Manon“) glaubt identifizieren zu können. Aber es ist Frédéric-August Bartholdi, Schöpfer der New Yorker Freiheitsstatue, auf der Essener Bühne anfangs noch unfertiges Modell, später massiv die Szene prägend. Hinter einem Schleiervorhang wird dann noch eine zweite Figur sichtbar. Es ist der Komponist, welcher seine „Manon Lescaut“ ersichtlich mit Herzblut zu Papier bringt. Er wird sich mit seinen Partiturblättern immer wieder in das Geschehen einmischen, die Darsteller gewissermaßen als Souffleur unterstützen. Natürlich hat sich der Zuschauer diesen Interpretationsakzent bald eingeprägt, und so geht er einem nach einiger Zeit schon etwas auf die Nerven.

Das ändert sich nach der Pause. Vor allem im 4. Akt verbinden sich Opernhandlung und Werkentstehung auf nachgerade beklemmende Weise. Puccini ist nicht länger der stimulierende Autor, sondern wird von dem Emotionsgewicht seines Werkes so sehr betroffen, dass er sozusagen die Rolle des Des Grieux übernimmt, welcher seinerseits ohne Kontakt zu Manon agiert. Diese wiederum lässt Verzweiflung über die schwergewichtigen Gefühls“zumutungen“ ihrer Rolle spüren. Man weiß, dass Puccini mit seinen Frauenfiguren litt. Herheim zeigt, wie stark Liebes-Sein und Bühnen-Schein einander durchdringen können und bietet großes Seelen-Theater. Die Ablehnung durch einen Teil des Premierenpublikums ist nicht nachvollziehbar. Bei Herheim ist die Handlung keine kontinuierlich psychologische. Realistische Szenen wechseln mit solchen des Theater-„Machens“ Was aber zunächst Als virtuos zirzensisches Spiel wirkt, dient immer mehr der Sichtbarmachung innerer Vorgänge. Der Chor – durchgehend furiose Massenregie – agiert als voyeuristisches Bühnenpublikum. Die Ausstattung von HEIKE SCHEELE ist eine ständig in Bewegung befindliche Kulissenlandschaft.

Beklemmend gelingt Stefan Herheim auch der 3. Akt. Die für die Verbannung bestimmten Frauen sieht man zunächst auf dem mehretagigen Bühnenbau angekettet, in sich zusammengesunken. Dann werden sie wie Vieh zum Schiff nach Amerika getrieben, wobei sich der Sergeant noch ausgiebig lüstern an einigen vergeht. Ganz am Schluss ist die Bartholdi-Statue übrigens wieder demontiert, ihre Einkleidung liegt am Boden, der Strahlenkranz ist entfernt, die Leuchte verglimmt. Eine Utopie von Glück und Freiheit hat ihr Ende gefunden.

 KATRIN KAPUSCH spielt Manon weniger mädchenhaft denn als Grande Dame, aber mit schöner koketter Allüre. Sie singt großformatig, ausdrucksvoll und höhensicher. Vielleicht fehlt ihrem Porträt ein wenig das erotische Glitzern, kein Grund aber für Reaktionen von Missmut wie am Abend der Premiere. Von der Erscheinung her steht der junge Tenor GASTON RIVERO aus Uruguay zu seiner Geliebten etwas in Kontrast. Das könnte u.U. ein eigener Interpretationsakzent sein, den Herheim aber nicht verfolgt, da er in seiner für mehrfache Verwertung ausgerichteten Inszenierung nicht von vorneherein angelegt war. Wenn sich Riveros Stimme ganz geöffnet hat, bezwingt sie mit Strahl und Empfindsamkeit; lebendige und differenzierte Darstellung kommt glücklich hinzu. Aus dem Geronte macht TIJL FAVEYTS mehr, als man normalerweise erlebt. Der profunde Bass des Belgiers ist freilich eine enorme Basis. MICHAELA SELINGER (Madrigalistin): schönstimmig, HEIKO TRINSINGER (Lescaut): rollendeckend, MATHIAS KOPETZKI (Puccini): gestisch verzehrend. Die beiden Mehrfachbesetzungen sind wohl auch als Teil des „theatralischen“ Konzepts zu verstehen. Vokal besonders eindrucksvoll gibt sich ABDELLAH LASRI (Edmondo, Tanzmeister, Laternenanzünder), BAURZAHAN ANDERZHANOV zeichnet bei Wirt, Sergeant und Kommandant überzeugende Figuren. Das vorgezogene Vorspiel klang in der Premiere noch etwas bemüht, danach erreichten die ESSENER PHILHARMONIKER unter GIACOMO SAGRIPANTI jedoch einen schön sämigen, klanglich fein gestuften Puccini-Sound.

Christoph Zimmermann

 

Christoph Zimmermann

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