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NÖ / Festspiele Reichenau: DIE STÜTZEN DER GESELLSCHAFT

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©Festspiele Reichenau, Foto: Carlos de Mello

NÖ / Festspiele Reichenau
DIE STÜTZEN DER GESELLSCHAFT von Henrik Ibsen
Premiere: 3. Juli 2013
Besucht wurde die Generalprobe

Alle Sommer wieder – Reichenau, das Refugium jener Theatermacher und Theaterbesucher, die nicht alles, was am heutigen Theater passiert, als Fortschritt betrachten. Sicher, auch hier bleibt nicht alles gleich – die Bühnenbilder etwa, die „Chef“ Peter Loidolt schafft, sind schon seit einiger Zeit mehr angedeutet und als „gebaut“. Aber ein Grundsatz steht fest: der Dichter und sein Stück wird wichtiger genommen als der Regisseur. Selbstdarsteller haben hier nichts zu suchen.

Der Spielplan – heuer wieder die Säulenheiligen der Festspiele am Semmering, Schnitzler und Nestroy. Dazu erneut eine Roman-Dramatisierung (nach der „Anna Karenina“ im Vorjahr die nächste Ehebrecherin der Weltliteratur, „Madame Bovary“). Und schließlich, nachdem man Tschechow mit seinen großen Stücken fast „durch“ hat, als Beitrag der Weltliteratur Henrik Ibsen. Keine gemähte Wiese übrigens.

Denn nicht alles, was der große Norweger schrieb, ist so gültig geblieben wie sein „Peer Gynt“ oder so nachhaltig wie seine Frauen-Psychogramme (Nora oder Hedda Gabler). In seinen großen Gesellschaftsporträt wie den heuer vorgestellten „Stützen der Gesellschaft“ findet sich manches an Kolportage (wie im sich überstürzenden Happy End, nachdem alle Katastrophen angesagt sind), findet sich das Knarren der allzu durchsichtigen Dramaturgie (wo der Zuschauer gar nicht übersehen kann, wie die Handlung banalerweise laufen muss), und schließlich ist manches schlicht und einfach von den Zeitläuften überholt: Nein, es gibt im allgemeinen keine prüde, verlogene, indoktrinierende, sich hoch moralisch gebende „gute Gesellschaft“ mehr, die den Ton angibt -  und die durch ein paar vollmundige Außenseiter ins Wanken gebracht werden kann.

Und trotzdem kann man, wenn man in diesem Stück stöbert (beim „Volksfeind“ mit seiner Umwelt-Problematik war es freilich leichter), dies und das finden, was uns noch als gültig anspricht: Etwa die Leichen, die die Mächtigen unweigerlich im Keller haben. Und die schmutzigen Geldgeschäfte allerorten, ob Unterschlagungen und Manipulationen (ja, Sündenböcke braucht man für dergleichen heute noch), ob schrankenloses Gewinnstreben durch das Ausnützen von Insider-Informationen: Wer weiß, wo die Eisenbahn geführt wird, kann preiswert Grundstücke kaufen…

All das kann man dem Reeder Konsul Karsten Bernick nachsagen, und mehr noch: Am stärksten wirken jene Szenen, in denen sein Vorarbeiter Aune für sich und seine Kollegen um ihre Arbeit kämpft – und die Maschinen, die sie überflüssig machen, warten schon. Wie dieser Kampf ausgegangen ist, wissen wir, und täglich rationalisiert der Computer weitere Arbeitsplätze weg… Dass der Mensch sich abschafft: Dichter wie Ibsen haben es damals, am Anfang der Industrialisierung, schon gewusst.

Regisseur Alfred Kirchner bespielt den zweiten Raum in Reichenau, der bekanntlich eine zentrale Raumbühne ist und ihre eigenen Gesetze hat. Peter Loidolt hat sie bescheiden, aber stimmig und atmosphärisch bestückt. Es gehört einiges an Theaterhandwerk dazu, das Geschehen hier am Laufen zu halten, aber das ist nicht das Problem des Abends. Tatsächlich hat Kirchner (in einer Fassung des Stücks, die ihm der in diesen Festspielen wirklich omnipräsente Nicolaus Hagg schuf) erreicht, dass eine fulminant dahinstürmende Aufführung Fragen gar nicht aufkommen lässt.

Etwa jene, dass man sich den rücksichtslosen Machtmenschen Bernick anders vorstellt als den schmalen  Marcello de Nardo, der aber mit einer nicht nachlassenden Power kämpft – gegen alle Anfechtungen, gegen die Schatten der Vergangenheit, um seine Stellung, um seinen Reichtum… Selbst wenn es am Ende knüppeldicke kommt und er zusammenbricht, hält er den Abend immer noch zusammen: Das Stück hängt letzten Endes an ihm.

Es gibt eine starke Gegenspielerin, die praktischerweise nach Amerika gegangen ist, weshalb Therese Affolter sie nach der Rückkehr im Stil eines entschlossenen Western-Girls darstellt (man wartet dauernd, dass sie die Pistolen zieht). Wie viel man aus einer verschüchterten Ehefrau herausholen kann, die eigentlich am Rande des Geschehens bleibt, zeigt Chris Pichler mit nicht zuletzt köstlich verkrampfter Körpersprache. Als kleine Rebellin darf Johanna Arrouas nicht so richtig auftrumpfen.

Innerhalb eines durchaus präsenten Ensembles (Tobias Voigt, Dirk Nocker, Jürgen Maurer, Eduard Wildner, Emese Fay, Karin Kofler, Tanina Beess), die das komplizierte Räderwerk des Stücks bedienen, gibt es noch eine starke, komplexe Figur, in der Ibsen ein Problem sinnfällig durchleuchtet: Martin Schwab als jener Schiffsbaumeister Aune, der in seiner gesamten Existenz – nicht nur der materiellen, sondern auch der immateriellen! – bedroht wird und den man zwingt, gegen seine Überzeugung zu handeln. Da steckt ein eigenes Stück drin, und Schwab schafft jene Figur, die neben dem schillernden Konsul am meisten zu denken gibt…

Ibsen wirkt immer, ein Stück wie dieses ist wie Kino: Wenn die Zuschauer es nicht kennen, werden sie schlechtweg einer spannenden Story folgen. Auch das darf sein am Theater.

Renate Wagner

 

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