“Autostück. Belgrader Hund” im Schauspiel Stuttgart. DAS AUTO FÜHRT ZUR ENTFREMDUNG
Anne Habermehls “Autostück. Belgrader Hund” am 17. Februar 2015 im Schauspiel/STUTTGART
Marietta Meguid und Sebastian Röhrle. Foto: Conny Mirbach
Man darf als Zuschauer im Auto durch Stuttgart mitfahren, das macht den Reiz von “Autostück. Belgrader Hund” von Anne Habermehl aus, die 1981 in Heilbronn geboren wurde. Während die von Marietta Meguid emotional verkörperte Lilijana sich noch heute schuldig fühlt, den Krieg in dem Land verbracht zu haben, das Bomben auf Belgrad werfen ließ, hält der von Sebastian Röhrle zwischen Selbstbeherrschung und wilden Ausbrüchen hin und her schwankend dargestellte Bogdan an Serbien fest. “Ich bin kein Nationalist”, herrscht er Lilijana an. Sie wehrt sich: “Hör’ auf!” Die Regie von Stefan Pucher (Co-Regie: Tom Stromberg) lässt das Publikum nicht zur Ruhe kommen. In einer Seitenecke neben dem Eingang zur Pforte des Schauspielhauses nimmt der Zuschauer Platz, die beiden Protagonisten treten herein, haben ihre Mühe mit dem qualmenden Auto – und los geht’s durchs nächtliche Stuttgart. Die Tour entwickelt sich schnell zur unheimlichen Geisterfahrt, wobei die Stadt zur Bühne wird. Lilijana will nicht zurück nach Serbien, sie will in Stuttgart leben, obwohl sie hier mit den Menschen und den Verhältnissen nicht klarkommt. Auch der Job im Nachtclub hilft ihr nicht weiter. Die Zuschauer haben auf der Rückbank Platz genommen. Während vorne das Radio läuft (unter anderem “Am Tag als Conny Kramer starb” von Juliane Werding), beginnen sich die beiden Schauspieler heftig zu streiten. “Mir passt das nicht, dass du dich rumtreibst”, empört sich Bogdan. Eifersüchtig fragt er sie: “Wo warst du letzte Nacht?!” Er schimpft zwar über Diktatoren wie Milosevic, Tito oder Hitler, aber er möchte das jugoslawische System nicht missen. Stefan Puchers Regie lässt gut deutlich werden, wie das Auto schließlich zur völligen Entfremdung zwischen zwei Menschen führt, die sich zuletzt nichts mehr zu sagen haben. Lilijana versucht unterwegs aus dem Auto auszubrechen, streckt den Kopf aus dem Fenster oder schiebt das Autodach zur Seite. Da platzt ihm der Kragen – er lässt alle aussteigen. Zwischendurch nimmt sich Bogdan aber auch zurück und versucht, auf Lilijana einzugehen: “Hast du Angst? Ich pass’ schon auf dich auf…” Doch die seelische Brücke hält nicht. Das intensive Kammerspiel zwischen Mann und Frau zerbricht. Die abendliche Stadt zieht wie ein Film vorüber – und im Auto zeigt ein kleiner Videofilm, dass die Beziehung von Lilijana und Bogdan vor fünf Jahren noch viel besser war als heute. Die Wirklichkeit verändert hier die Wahrnehmung. Und die Grenzen zwischen Realität, Spiel, Schauspielern und Zuschauern verschwimmen auf groteske Weise. Immer wieder wird man zum Aussteigen gezwungen – einmal fällt der nächtliche Blick auf die Stadt. Und Bogdan lässt die jammernde Lilijana schließlich alleine zurück. Und er verabschiedet sich zuletzt auch vom Publikum. Als “Retterin” entpuppt sich dann wiederum Lilijana, die die Gäste wieder ins Auto bittet und ins Stadtzentrum fährt. Da fehlt plötzlich der rote Faden in der Handlung. Sie echauffiert sich immer wieder: “Beschissen, dieses Jugoslawien!” Bogdan träumt zuvor unterwegs von einem Swinger-Club mit Lilijana als Protagonistin. Aber das erweist sich als reine Illusion. Gelegentlich gibt es zu viele Pausen in dem Stück, das die Zuschauer mit immer neuen Musik-Fetzen (unter anderem “Underworld & John Murphy – Mercury”) bedrängt. Geschimpft wird über die Belgrader “Hunde”, wobei man sich fast sicher ist, dass auch der mit seinem Leben unzufriedene Bogdan sich als “Belgrader Hund” fühlt, der mit seiner Begleiterin überhaupt nicht zurecht kommt. Zuletzt zeigt Sebastian Röhrle dem Publikum den 1996 entstandenen “Abendstern” von Micha Ullman, der 1996 in eine Gehwegplatte Ecke Stauffenberg- und Bolzstraße eingraviert wurde – eine halbkugelförmige Fräsung von vier Zentimetern Durchmesser und zwei Zentimetern Tiefe. Die Zuschauer dürfen beim Betrachten des Kunstwerks Wunderkerzen abbrennen. Bei Sonnenschein ist die kleine Höhlung eine Uhr, die auf den Sonnenstand reagiert, bei Regen wird sie zu einem kleinen See, in dem sich der Himmel spiegeln kann. Micha Ullman wurde 1939 in Tel Aviv geboren, nachdem seine jüdischen Eltern nach Palästina emigriert waren. Er war zwischen 1991 und 2005 Professor für Skulptur an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Allerdings erschließt sich der Zusammenhang zwischen dem “Autostück” und diesem “Abendstern” nicht unbedingt. Eine gemeinsame Linie besitzt wohl nur die Kriegssituation. Alles in allem ist “Autostück. Belgrader Hund” ein durchaus neuartiger Versuch, Theater in die Realität zu transportieren. Dies ist mit einigen Abstrichen auch gelungen. Die Kostüme von Anna Franziska Huber passen sich den Verhältnissen an (Soundtrack: DJ Koze). Die Toneinspielung “Erlkönig” stammt von Boris Burgstaller und unterstreicht den gehetzt-atemlosen Charakter dieses Stückes.
Alexander Walther