Spektakuläre Wiederentdeckung in Stuttgart: „Berenike, Königin von Armenien“ von Niccolò Jommelli
(Vorstellung: 22. 2. 2015)
Sebastian Kohlhepp als Lucio Vero in seelischem Konflikt zwischen Berenice (Ana Durlovski) und Lucilla (Helene Schneiderman) {Foto: A. T. Schaefer}
Die Oper Stuttgart brachte mit „Berenike, Königin von Armenien“ von Niccolò Jommelli eine besondere Rarität auf die Bühne. Die Uraufführung des Werks fand 1766 unter dem Titel „Il Vologeso“ in Ludwigsburg statt, wo Herzog Carl Eugen das damals größte Opernhaus Europas (angeblich mit einem Fassungsvermögen für etwa 3000 Zuschauer) errichten ließ, in dem publikumswirksame theatralische Effekte, wie den Kampf mit einem Löwen oder blitzartige Bühnenbildverwandlungen gezeigt werden konnten.
Der Inhalt des Werks, dessen Libretto der Dichter und Gelehrte Apostolo Zeno verfasste, in Kurzfassung: Lucius Verus, der Mitregent des Kaisers Marc Aurel, hatte sich auf dem Feldzug gegen die Parther in Berenike, Königin von Armenien und Braut seines totgeglaubten Gegners Vologeso verliebt. Doch Vologeso lebt – und auch Lucilla, die Tochter des Kaisers, ist nicht bereit, ihren Anspruch auf die Hand ihres Verlobten Lucius Verus aufzugeben.
Mit dem Libretto Lucius Verus schrieb Apostolo Zeno im Jahr 1699 eine der wirkungsvollsten Erzählungen der europäischen Opernbühne. Immer wieder kam es im 18. Jahrhundert zu aktualisierten Neuvertonungen auf einer der zahlreichen Bühnen Italiens, aber auch in Wien, Prag, München, Hamburg, London und St. Petersburg entstand ein regelrechter Boom, der erst 1816 zum Erliegen kam. Das Werk wurde unter verschiedenen Titeln aufgeführt, wie unter Lucio Vero, La Berenice, Berenice e Lucilla oder Der Triumph der Beständigkeit. Einer der berühmtesten Komponisten des 18. Jahrhunderts war Niccolò Jommelli (1714 – 1774), der am Konservatorium San Onofrio in Neapel studierte, wo er von Hasse und Graun stark beeinflusst wurde. Er ging nach Rom, Bologna und Venedig und hielt sich 1749 auch in Wien auf. Auf dem Höhepunkt seines Ruhms wurde er 1753 von Herzog Karl Eugen an den Stuttgarter Hof berufen.
Es lag daher für die Intendanz der Oper Stuttgart nahe, Jommellis Werk – unter dem neugewählten Titel „Berenike, Königin von Armenien“ – in italienischer Sprache mit deutschen Übertiteln wiederaufzuführen. Das seit Jahren eingespielte Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito lässt die Oper in verschiedenen Zeitebenen ablaufen, was sich auch bei den Kostümentwürfen von Anna Viebrock bemerkbar machte, die ein Konglomerat verschiedener Jahrhunderte waren. Ihre Bühnengestaltung beschränkte sich auf eine breite Treppe, die bis in den Orchestergraben führte, und auf offensichtlich vom Krieg beschädigte Hauswände und Säulenimitationen. Warum Figuren aus Tintorettos Gemälde „Die Fußwaschung“ (1549, Prado) auf die Bühne gebracht wurden, erschloss sich dem Publikum nicht. Beeindruckend hingegen die kreative Personenführung und die Idee, die Szene, in der Vologeso einem Löwen zum Fraß vorgeworfen wird, im Orchestergraben und im Zuschauerraum spielen zu lassen, wo der Partherkönig mit dem von Lucio Vero gereichten Schwert den imaginären Gegner bei Löwengebrüll aus einem Lautsprecher schließlich tötet.
In der Rolle des Lucio Vero brillierte der Tenor Sebastian Kohlhepp sowohl stimmlich wie auch darstellerisch. Mit welcher Inbrunst er – mit Lucilla verlobt und in Berenice verliebt – seine vielen Arien jammernd und herzerweichend klagend sang und dabei oft artistisch
über Bühne und Treppe hetzte, war eindrucksvoll. Nicht weniger eindrucksvoll die Leistung der Schweizer Mezzosopranistin Sophie Marilley als einarmiger, vom Krieg gezeichneter Vologeso, die ihre Hosenrolle als König der Parther stimmlich wie schauspielerisch hervorragend gestaltete.
Erstklassig besetzt war auch die Titelrolle mit der Sopranistin Ana Durlovski. Verlobt mit Vologeso, aber begehrt von Lucio Vero spielte sie ihre Zerrissenheit mit starkem Ausdruck. Lucilla, die Tochter des Kaisers Marc Aurel, wurde von der amerikanischen Sopranistin Helene Schneiderman dargestellt. Sie gab ihrer Rolle ein starkes Profil und hatte gegen Schluss die stärkste Szene, als sie vor ihren Bräutigam Lucio Vero dessen Vertrauten Aniceto unverhohlen Avancen machte.
Diesen Aniceto gestaltete der Mazedonier Igor Durlovski stimmlich hochinteressant. Als Vertrauter von Lucio Vero sang er mit hoher Altusstimme, während er als Liebhaber Lucillas mit tiefem, dunklem Bass agierte. Die schottische Sopranistin Catriona Smith spielte die Rolle des Flavio, des Gesandten Marc Aurels, sehr hektisch und ähnelte im Zorn einem Rumpelstilzchen.
Das Staatsorchester Stuttgart unter der gefühlvollen, aber oftmals auch temperamentvollen Leitung von Gabriele Ferro gab die facettenreiche Partitur des Komponisten in allen Nuancen exzellent wieder. Zur Freude des Publikums, das am Schluss der dreieinhalbstündigen Vorstellung allen Akteuren minutenlang mit frenetischem Beifall für ihre großartigen Leistungen dankte. Man darf von einer gelungenen Wiederentdeckung einer vergessenen Oper sprechen, die 1766 in Ludwigsburg bloß eine Vorstellung erlebte und danach nur noch eine einzige szenische Produktion in Portugal hatte.
Udo Pacolt