Alle Fotos: (c) Werner Kmetitsch / Theater an der Wien
WIEN / Theater an der Wien:
GESCHICHTEN AUS DEM WIENER WALD von HK Gruber
Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen
Wiener Premiere: 14. März 2015
Wenn man bedenkt, wie viele ganz „normale“ Produktionen (etwa eine „Tosca“ oder „Elektra“, die jedes Haus sich ohne weiteres selbst machen könnte) als Co-Produktionen durch die Welt reisen, macht das System mit Uraufführungen natürlich ungleich mehr Sinn. Da geht es nicht nur darum, eine Aufführung auf die Bühne zu stellen, da lernen Musiker und vor allem Sänger ein gänzlich neues Werk, das sie unter schlechten Umständen nie wieder „anbringen“ können. Wenn zwei Institutionen mit der Potenz der Bregenzer Festspiele und des Theaters an der Wien sich hingegen zu einer Uraufführung zusammen tun, kann schon etwas Ordentliches herauskommen. Und so war es auch.
Man kennt Michael Sturminger, er ist ja nicht nur unterwegs, um dauernd neue Projekte für John Malkovich zu erfinden. Aus Ödön von Horvaths wohl berühmtestem Stück, den „Geschichten aus dem Wiener Wald“ (das er übrigens 2002 bei den Sommerspielen in Perchtoldsdorf inszeniert hat), ein Libretto zu machen, das dann von einem bekannten österreichischen Komponisten vertont wird, ist schon ein Unternehmen.
Gekürzt werden musste natürlich (wobei die Oper dann immer noch an die drei Stunden dauert), das Handlungsgerüst blieb, nur einzelne Figuren verloren eindeutig ihr Schillern, sogar ihre Persönlichkeit. Der „Zauberkönig“ ist hier einfach ein rücksichtsloser Vater, keine sonderlich interessante Figur mehr, und der Fleischhauer Oskar, bei Horvath von abgründiger Dämonie und einer in schleimige Freundlichkeit gekleideter Gefährlichkeit, ist hier fast nur ein netter Kerl. Das nimmt dem Figuren-Arsenal einiges an Kraft.
Auch geht die Geschichte Marianne – Alfred so schnell vorbei, dass man sich fragt, ob jene Zuschauer, die Horvaths Original nicht kennen (das passiert in Wien allerdings kaum, wo es in den letzten Jahrzehnten mehr als ein Dutzend verschiedene Inszenierungen gab), auch alle Details der Handlung mitbekommen… Aber in der Oper ist man nicht so heikel. Und eine Figur, die allerdings auch im Original in so manch einer Inszenierung der stärkste Eindruck war, wächst auch hier zu einer ganz großen Rolle empor: Liegt es nur an Interpretin Angelika Kirchschlager, dass die Valerie so schlechtweg faszinierend ausgefallen ist?
HK Gruber, wie er sich nennt, den „Heinz Karl“ unter den Tisch fallen lassend, weil ohnedies jeder ihn nur „Nali“ nennt, hat die Libretto-Fassung der „Geschichten aus dem Wiener Wald“ komponiert, und dass er komponieren kann, das hört man immer, auch wenn er zu Beginn und Ende zu einer Lautstärke hochputscht, die etwas mit unnötiger Effekthascherei zu tun hat. Von absichtsvoll pervertierten Phrasen der Wiener Musik bis zu Alban Berg hört man an diesem Abend alles – und das ist vielleicht ein Fehler. Denn jedes große, in sich gelungene Opernwerk (vom „Orfeo“ bis zum „Don Giovanni“, vom „Holländer“ bis zur „Aida“, von der „Salome“ bis zum „Wozzeck“, um willkürlich welche zu nennen) hat einen „Ton“, einen „Sound“, wenn man so will, ein inneres musikalische Konzept, das den Abend auch akustisch erkennbar zusammen hält. Gruber hat viele, viele einzelne Teile geschaffen, die nicht unbedingt zusammen gehören müssen – und er braucht unendlich viele Musiker dazu: Außer den Wiener Symphonikern, die er selbst leitete, gab er seine Zeichen auch noch in die Proszeniumslogen zum Jazzorchester Vorarlberg, und obwohl das Stück nicht unbedingt einen „Chor“ bräuchte, gibt es ihn doch (und das Vokalensemble NOVA, geleitet von Colin Mason, dafür).
Sehr viel Musik, die sich in allen Stilen umtut, die Sänger – grundsätzlich zu Kippen zwischen Sprechgesang und Gesang verurteilt – teils in unsingbare Phrasen hetzt, teils ganz brav, tonal und singbar bedient, und schließlich den Text teils sorglich moduliert, teils gnadenlos ertrinken lässt. So richtig einheitlich ist an diesem Abend nichts. Nirgends.
Das gilt nämlich auch für die Inszenierung von Michael Sturminger, der das Stück vom Horvath-Text her belässt, wo es hingehört, nämlich Anfang der dreißiger Jahre, aber in der Ausstattung von Renate Martin & Andreas Donhauser auch mal die UNO-City oder den Donauturm im Hintergrund zeigt, und in der Trafik von Frau Valerie kann man „Presse“ und „Kurier“ kaufen. Die Kostüme mischen die Zeiten, und die Hintergrundsprojektionen (vorne werden die Versatzstücke schnell her und wieder weg geschoben) sind zweifellos eine gute Lösung. Ein Mischmasch ist es doch.
Angelika Kirchschlager
Die Bregenzer Festspiele und das Theater an der Wien haben hoch besetzt, und Wien hat sicher den Vorteil, dass alle Sänger ihre Rollen schon erproben und in ihren Wirkungen austesten konnten, so dass sie fest drinnen stehen. Niemand allerdings so hinreißend, wie erwähnt, wie Angelika Kirchschlager als Valerie – ein spätes „süßes Mädel“ von der locker ordinären Art, das eine tüchtige Geschäftsfrau und vor allem eine zutiefst selbständige, selbstbewusste Frau geworden ist, die weiß, was sie will, es sich holt und es bekommt. Die in ihren engen Kleidern und mit ihren wachen Augen, dem wissenden Lachen und der kessen Koketterie einfach unwiderstehlich Erotik ausstrahlt – und doch eine handfeste Frau aus dem Volke ist, deren Unmoral sie nicht daran hindert, genau zu wissen, was richtig und was falsch ist. Die Kirchschlager sprech-singt das, je nach Verlangen des Komponisten, mit einem völlig intakt klingenden, nuanciert artikulierenden Mezzo, und man ist dem Komponisten / Dirigenten nur böse, dass er so laut loslegt, dass ihre Szene im Maxim (die Erschütterung, wenn sie die nackte Marianne erkennt) nicht zur Geltung kommt, weil sie vom Orchester totgedroschen wird.
Ilse Eerens, Jörg Schneider
Marianne ist das Opfer in der Zwickmühe zwischen Familie und gesellschaftlichen Forderungen, und wenn sie versucht, ihre Wünsche zu realisieren, scheitert sie an der ökonomischen Realität und der Bösheit der Menschen: Ilse Eerens (man würde nie vermuten, dass Deutsch nicht die Muttersprache dieser Belgierin ist, so perfekt hat sie den Text erarbeitet) ist der Inbegriff einer Reinheit, die sich allen Versuchen zum Trotz nicht wehren kann, und sie singt und spielt das schlechtweg ergreifend.
Dritte große Frauenleistung: Anja Silja verkörpert in zwei Szenen die Großmutter, nicht als alte Bäuerin „draußen in der Wachau“, sondern mit langen Hosen, Weste, Stock und einer Stimme, die durch Mark und Bein dringt: Wo auch hier das Libretto gegenüber den Horvath’schen Original zu kurz greift (diesen Vergleich muss man sich schon gefallen lassen), füllt sie es mit ihrer Persönlichkeit erschreckend auf.
Anja Silja , Daniel Schmutzhard
Daniel Schmutzhard verkörpert wirklich einen miesen Strizzi, erzielt aber nicht so viel Effekt wie Jörg Schneider, der sich als Oskar teils wie ein Heldentenor, teils fast wie eine noble Seele gebärden muss, und beides passt zwar absolut nicht zu Horvaths Original, macht aber Effekt.
Albert Pesendorfer (so groß, dass er Fasolt oder Fafner ohne Stelzen verkörpern könnte) ist trotz der Statur ein eher farbloser Zauberkönig, was aber weniger an ihm als an der als Persönlichkeit so geschrumpften Partie liegt, und unter den Nebenrollen fällt Alexander Kaimbacher in mehreren schrillen Nebenrollen auf.
Die Oper hat Längen, die Oper hat viele packende Stellen, und als „neue Oper“ hat sie zweifellos einen interessanten Abend ergeben. Das Publikum klatschte lange, man kann von einem ehrlichen Erfolg sprechen.
Renate Wagner
Sicher sind die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ nicht das Werk, wo ein Publikum „da capo“ fordert – und dennoch bekommt man es auf Wunsch geliefert. Nach der Premiere konnte man sich noch auf eine Stunde in die „Hölle“ begeben und jenen Monolog „Fahrt ins Glück“ der Marianne hören, den Angela Schneider geschrieben hat und den Petra Morzé verkörperte – einst, 1994, die Marianne in der Josefstadt-Aufführung in der Regie von Karlheinz Hackl, mit Herbert Föttinger und Otto Schenk (der bei Nali Gruber im Zuschauerraum gewesen war) als Partner.
Die Marianne, die man kennen lernt, ist Oskar nicht „entkommen“ und seit Jahren mit ihm verheiratet, arbeitet in der Fleischerei mit und hat mit ihm einen vierjährigen Sohn, Robertl, mit dem sie in der Mittagspause heimlich auf den Spielplatz geht, um dem Dunstkreis des Gatten zu entfliehen. Dabei zeigt sich in ihren Überlegungen nicht nur, wie viel sie ihrer Umwelt noch vorzuwerfen hat und wie unzufrieden und unglücklich sie nach wie vor ist – die Autorin zeigt auch, dass Marianne in der Verzweiflung über den Tod ihres Söhnchens Leopold Gefahr läuft, dem Kind, das sie jetzt hat, Unrecht zu tun und sich und andere unglücklich zu machen…
Dass man vermutlich im Jahr 1938 ist, nach dem März, zeigt sich daran, dass der Robertl seine kleine Spielkameradin Selma, das jüdische Mädchen, vermutlich nicht mehr oft sehen wird. Man sage ja, sie sollen ganz weg, die Juden, überlegt Marianne. Aber wo sollen sie denn hin? Sie können sich doch nicht in Luft auflösen…?
Trotz des schrecklichen Bewusstseins, dass eine Lösung gefunden wurde, konnte Petra Morzé – jetzt war es schon tief in der Nacht – zusammen mit der Autorin und der Regisseurin Cornelia Rainer den Beifall des begeisterten Publikums entgegen nehmen.
Renate Wagner