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LONDON/ / Das Royal Ballet im Kino: SCHWANENSEE – in Original-Choreographie

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Live aus dem Royal Opera House London: P. I. TSCHAIKOWSKYSSCHWANENSEE”-BALLETT IN “ORIGINAL”-CHOREOGRAFIE - 17.3. 2015

 

„Wenn Sie in Ihrem Leben nur einmal Schwanensee sehen, dann sehen sie diesen“. Damit dürfte jeder, auch wer zum ersten Mal ein klassisches Ballett besucht, P. I. Tschaikowskys Musik, die Handlung und ihre ideale tänzerische Umsetzung kennen, ohne sich erst theoretisch mit Inhalt und Musik zu befassen, und damit auch die Grundlage aller Variationen und Adaptionen dieses bekanntesten und beliebtesten Balletts überhaupt, das Alt und Jung gleichermaßen fasziniert. Wohl kaum ein Choreograf wagt, eine neue Fassung von „Schwanensee“ zu kreieren, ohne wenigstens einige Anlehnungen an die Choreografie von Mariuis Petipa und Lev Ivanov, mit der sich dieses Ballett international durchgesetzt hat und schließlich zum erfolgreichsten Ballett bis in unsere Zeit avancierte. In zunehmendem Maße gibt es jetzt Neuinszenierungen, die sich mehr und mehr vom „Original“ entfernen und eigene Interpretationen präsentieren, bis hin zur Änderung der Handlungsstränge, aber die Originalfassung bleibt auf der Beliebtheitsskala ganz oben, denn nirgendwo wird die ewige Liebe, die den Bann des bösen Zauberers löst, so eindrucksvoll und berührend dargestellt wie in dieser Fassung.

 In einer Live-Übertragung aus dem Royal Opera House London konnte man nun u. a. im Ufa Kristallpalast in Dresden die 28. Vorstellung der in mehrfacher Hinsicht zauberhaften Produktion von Antony Dowell (Inszenierung: Christopher Carr) von 1978, weitgehend mit der Original-Choreografie von 1895, erleben, bei der von David Bintley ein „Walzer“ im 1. Akt und von Frederik Ashton ein „Neapolitanischer Tanz“ im 3. Akt und auch kleine liebenswürdig parodierende Szenen mit viel Humor eingefügt wurden, wie der distinguierte Tutor, der ganz außer Atem kommt, wenn er 2 kleinen Hofdamen Tanz und Eleganz beibringen will. Es ist eine grandiose Inszenierung mit allem Theaterzauber, wie der Einblendung der Odette als Vision vom weißen Schwan (3. Akt), „umflort“ vom Höllenfeuer und viel Dampf, mit romantischem Bühnenzauber, hohem tänzerischem Können, Märchenhaftem, Zauberhaftem und auch Dramatik, eben ganz großes Theater, das „manchem etwas bringt“ (Goethe).

 Die mit schimmernden Stoffen, aber auch unter Verwendung ungewöhnlicher Materialien und Schneider-Techniken, mit viel Raffinesse gefertigten Kostüme in wunderbar abgestimmter Farbigkeit und plastischer Bühnenwirksamkeit unterstreichen den Kontrast zwischen Mensch und Geisterwelt und geben der Handlung einen zauberhaften Rahmen, inspiriert von den Arbeiten des russischen Juweliers Peter Carl Fabergé (1846 – 1920), der unter Verwendung von Edelmetallen und Edelsteinen die berühmten Farbegé-Eier und Kleinodien schuf.

 Den 1. Akt siedelte Dowell in den adligen Kreisen Russlands Ende des 19. Jhs. an, mit verschwenderischer Opulenz und adliger Militärpräsens. Ohne Brüche geht diese Gesellschaftsdarstellung mit Prinz Siegfried, der an der Schwelle zum Erwachsenwerden vom höfischen Leben und der Aufforderung seiner Mutter, sich unter den präsentierten adligen jungen Damen eine Braut auszusuchen, weg ins Freie strebt, in den 2. bis 4. Akt über, in eine märchenhafte Welt voller Zauber, dargestellt in üppig romantischen Bühnenbildern im besten Sinne, ohne an die Grenzen des Sentimentalen zu geraten oder gar zum Kitschigen zu neigen. Selbst die überaus romantische Schlussszene, wenn die erlöste Odette und ihr (Traum‑)Prinz im Traumboot auf dem (Schwanen-)See „schippern“, wirkt nicht etwa peinlich, da sie an gute Darstellungen (Gemälde und Zeichnungen) aus der Zeit der Romantik erinnert (Designs: Yolanda Sonnabend).

 Zurück zur Natur und zu den Wurzeln guter Opern-Inszenierungen scheint in zunehmendem Maße die Orientierung zu werden, denn dauerhaft im Widerstreit zu traditionellen Opern-Interpretationen, die es schon fast nicht mehr gibt, zu inszenieren, Tabus zu brechen, die schon „ausgerottet“ sind und „neue Wege“ zu gehen, die schon lange nicht mehr neu sind, ist das Publikum überdrüssig. Ein Lösungsweg scheint die Modernisierung und Weiterentwicklung alter Traditionen zu werden und vor allem eine Verdeutlichung des ursprünglichen Inhalts des
musikalischen Bühnenwerkes anstelle einer „neuen“, sehr individuellen Sicht eines Regisseurs, die erst einiger Erklärungen bedarf, neu und anders um jeden Preis, aber nicht immer wirklich gut. Man ist dabei, Oper und Ballett bereits wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen.

 Ähnlich wie vor einer Premiere steigt bei einer Live-Übertragung die Euphorie aller Beteiligten ins Unermessliche, wenn die Künstler vor ein weltweites Publikum treten, um die Zuschauer in aller Welt in ihren Bann ziehen. Das Royal Ballett tanzte in seiner bewährten, immer wieder faszinierenden Weise, orientierte auf die perfekte Ausführung, ideale Körperhaltung, schöne Pirouetten in vielen Variationen, sehr gute Sprünge und Hebefiguren und Stehen auf einer Spitze, wenn auch ohne neuartige oder extreme Schwierigkeiten, aber immer in sehr ansprechender Ästhetik und integriert in ein ausdrucksvolles Handlungsballett.

 Natalia Osipova tanzte die anspruchsvolle Doppelrolle des weißen und des schwarzen Schwanes erstmals als Prima Ballerina des Royal Ballet, aber vergleichbar den ganz großen Ballerinen der Vergangenheit, die in dieser Rolle weltweit Aufsehen erregten. Ständig in fließender Bewegung, wie entmaterialisiert, fern aller „Erdenschwere“, in perfekter Balance zwischen Pose, Bewegung und Ausdruck, trotz aller Ekstase nicht übertrieben und bei jeder Bewegung ihres geschmeidigen Körpers „gestylt“ bis in die Zehen und Fingerspitzen, tanzte sie in jeder Phase einen „lebendigen“ Schwan voller Empfindsamkeit und schien in diesen beiden Rollen völlig „aufzugehen“.

 Als Prinz Siegfried überraschte Matthew Golding, in seiner äußeren Erscheinung, Gesichtsausdruck und Mimik, tatsächlich ein junger Mann, der sich noch nicht ganz in der Welt der Erwachsenen zurechtfindet, durch besonders hohe Sprünge und Sprungfolgen, Pirouetten und auffallend hohe Hebefiguren – ein Gegenpol und kongenialer Partner der Osipova.

 Für die charakteristischen „Nebenrollen“ waren alle Tänzerinnen und Tänzer und auch sonstigen Darsteller (Bauern, Hofdamen, Kadetten, Diener, Pagen) sehr gut gewählt und durch geschickte Regie, entsprechend ihrem Können, ins Bild gerückt. Elizabeth Mcgorian war die ideale Verkörperung der liebevollen, aber auch gestrengen Fürstinmutter und Gary Avis ein überzeugender, das Bühnengeschehen kontrastierender und tanzend ergänzender Böser Zauberer/Baron von Rotbart sowie Alastair Marriott ein übermäßig distinguierter und deshalb unfreiwillig komischer Tutor.

 Hervorragend wurden zwei Schwäne von Melissa Hamilton und Itziar Mendizabal in kürzeren, aber eindrucksvollen Auftritten (3. und 4. Akt) getanzt. Zahlreiche weitere Darsteller von Schwänen – Künstler des Royal Ballet und Schülerinnen der Royal Ballet School – ließen nicht nur in Bewegung, sondern auch in den berühmten „stehenden Bildern“ sehr ausdrucksvoll eine romantische Welt voller Grazie erstehen. Jeder kennt den Tanz der 4 Cygnets (2. Akt). Einige Produktionen haben da die Messlatte sehr hoch gelegt. Abgesehen davon, dass hier die „Kleinen“ Schwäne (Francesca Hayward, Meaghan Grace Hinkis, Emma Maguire und Yasmine Naghdi) relativ groß wirkten, waren ihre Schritte nicht in jeder Phase so konform, wie man es von zahlreichen anderen Aufführungen kennt. Sehr gut waren hingegen Francesca Hayward und Yuhui Choedie im Pas de trois (1. Akt), als sie mit ungeheurer Leichtigkeit, unterstützt von Alexander Campbell, dahinschwebten.

 Der Ballett-erfahrene Dirigent Boris Gruzin leitete das Orchestra of the Royal Opera House konform mit dem Handlungsballett, von lyrisch untermalenden, emotionalen Tanzszenen in einer Steigerung bis zu dramatischen Szenen (4. Akt) mit „Blitz und Donner“, „Gewitter und Sturm“ der Gefühle in einer Einheit von Ballett, Choreografie und Orchester. Darcey Bussell, die selbst Prima Ballerina des Royal Ballet war und Odette/Odile tanzte, führte charmant und fachkundig durch den Abend mit Hintergrundberichten, Interviews und Pausengesprächen.

 Das Publikum im Royal Opera House geriet bei den großartigen Tanzszenen außer Rand und Band. Da kann man sich vorstellen, welchen Run es da auf die begehrten Eintrittskarten gibt. Für die Live-Übertragung im Kino hat man es da wesentlich leichter, und man hat die Garantie auf besonders gute Sicht. Erstaunlicherweise hat man im Großen Saal des Ufa Kristallpalastes in Dresden von jedem Platz aus eine „frontale“ Sicht, als säße man in der Loge des Opernhauses. Da in der sehr guten Bildregie öfters Ausschnitte und Details in den Fokus geholt werden, ist zwar nicht immer das gesamte Bühnenbild präsent, aber man kann Mimik und Details ganz nahe beobachten, was im Opernhaus von den wenigstens Plätzen aus möglich sein dürfte.

 Die Live-Übertragungen aus dem ROH London im Ufa Kristallpalast Dresden sind immer ein Ereignis, ganz gleich, ob Oper oder Ballett, ältere oder neuere, traditionelle oder moderne Inszenierung. Die nächste Ballett-Live-Übertragung aus dem ROH findet am 5.5., 20.15 Uhr statt: das heiter-köstliche Ballett “La fille mal gardée”, die nächste Opern-Live-Übertragung schon am 1.4., 20.15 Uhr: “Rise and Fall of the city of Mahagonny”, und es gibt auch gute Aufzeichnungen vom Bolschoi Ballett Moskau, z. B. am 19.04., 17.00 Uhr “Ivan der Schreckliche” (Prokofjev/Grigorovich).

 Ingrid Gerk

 

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